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Berliner TagebuchEin „Vögelchen“!

■ Berlin vor der Befreiung: 31. März 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Ich habe einen Coup gelandet. Und großartige Beute heimgebracht. Als ich gestern abend einen Kollegen besuche, der zur Untermiete bei einem höheren SS-Bonzen wohnt, finde ich das Haus vom letzten Bombenangriff in allen Fugen „durchgepustet“...

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite brennt es vom Keller bis zum Dachboden. Der Kollege ist ausgegangen. „Funktioniert Ihr Telephon?“ erkundige ich mich bei der Naziköchin. „Dann darf ich vielleicht kurz telephonieren.“ Sie führt mich ins Arbeitskabinett ihres Herrn. Ich stolpere über den Schutt zum Schreibtisch. Durch die offenen Fensterhöhlen glüht das düstere Rot der Feuersbrunst. In seinem auf- und abflackernden Schein erkenne ich den Apparat, erkenne dicht neben ihm eine Schale mit Schreibutensilien aller Art und mit zahlreichen Gummistempeln. Ein Einfall blitzt mir durch den Kopf. Sollte unter diesen Stempeln vielleicht... Rasch ziehe ich meine Handlampe hervor. Die Köchin ist weit... Ich schirme die Lampe mit der Hand ab und unterziehe den Inhalt der Schale einer eingehenden Musterung. Eckige Stempel – ovale Stempel. Nein, das ist alles nichts. Eilige Drucksache. Erledigt – Muster ohne Wert. Da endlich! Also doch! Ein runder roter Knauf. Kreisrund die graue Stempelscheibe. Ein „Vögelchen“! Wahrhaftig, ein „Vögelchen“! Der Hoheitsadler der Partei. Unschätzbares Wertobjekt für jeden, der einen Ausweis braucht. Papier aus der Tasche. Ein altes Kuvert. Ich haue auf das Stempelkissen, als schlüge ich die Kesselpauke. „Auslandsorganisation der NSDAP, Reichsleitung“, steht im Kreis um den Adler herum. Besser hätte ich es gar nicht treffen können. Ruth Andreas-Friedrich

„Der Schattenmann“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1984, Tagebuchaufzeichnungen von 1938 bis 1945.

„Schauplatz Berlin“, Suhrkamp 1984, Tagebuchaufzeichnungen von 1945 bis 1948.

Ruth Andreas-Friedrich (1901– 1977), Journalistin, Mitglied einer Widerstandsgruppe.

Recherche: Jürgen Karwelat

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