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Berliner Tagebuch„Verzage nicht, du Häuflein klein ...“

■ Berlin vor der Befreiung: 15. April 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Wir haben das mit dem Abschied heute noch gemacht, denn jeder Tag zählt jetzt. Frau Koser hat gehört, daß Luftlandetruppen über der Stadt abgesprungen sind, aber Oles Vater sagt, das sei Spinne.

Der sieht übrigens zum Schreien aus in seinen viel zu weiten braunen Volkssturmklamotten! Leider ist seine Laune sehr schlecht, weil er eine verrenkte Schulter hat. Die hat er sich bei Schießübungen mit der Panzerfaust geholt. Das ist eine Art Schulterkanone. Sie ruckt beim Abfeuern so stark zurück, daß man fast hintenüberfällt.

Ole mußte bei den Übungen zuschauen, damit er auch schon was lernt. Außerdem soll er am Freitag zu einem Empfang bei Führers Geburtstagsfeier mit dabeisein. Dort erhalten die Jüngsten, die beim Volkssturm mitkämpfen und Panzerfäuste abschießen können, einen Orden.

Wir haben beim Abschied nur so rumgesessen und noch ein paar Lebensmittel ausgetauscht. Marianne brachte uns eine Flasche Lebertran. Früher hab ich das Zeug ausgespuckt, heute braten wir damit!

Oma hatte – o Wunder – noch ein paar Zigaretten für Oles Vater. Er gab uns eine Tüte Grieß für Antje. Von uns bekamen alle weiße Bohnen mit, und unser Eimer ist nun fast leer. Ja, was sollten wir zum Abschied Großes sagen?

Oles Vater hatte natürlich wieder ein Gedicht: „Verzage nicht, du Häuflein klein ...“ Den Rest hab' ich kaum gehört, denn Antje fing an zu brüllen, weil er die Gasmaske wie einen Kasper sprechen ließ.

Mir fiel nichts Besseres ein, als allen „Hals- und Beinbruch“ zu wünschen. So sagt man beim Theater. Allerdings wenn der Vorhang aufgeht. Nicht wenn er fällt. Evelyn Hardey

Evelyn Hardey: „... damals war ich fünfzehn“, Enssling & Laiblin Verlag, Reutlingen 1979.

Evelyn Hardey, geboren 1930, Autorin von Reiseberichten, Hörspielen und Büchern, erlebte das Kriegsende in Wilmersdorf.

Recherche: Jürgen Karwelat

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