Berliner Tagebuch: Alle haben Hunger
■ Berlin vor der Befreiung: 18. April 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Heute war beim Bäcker ein alter, schwacher Mann aus dem Altersheim, der um eine Schrippe bat; er hatte solchen Hunger und keine Marke. Er hat so lange gebettelt, aber er hat nichts bekommen. Ich hatte leider keine Schrippenmarken mit. Hier hat jetzt jeder Hunger. Alle Leute haben schon für mehrere Wochen voraus Brot gekauft. Heute bin ich vom Kanonendonner geweckt worden, die Russen schießen schon ziemlich nah; Bertel ist nun sicher schon im Kampf. Es ist furchtbar. Aber ich glaube kaum, daß wir hier noch lebend herauskommen. Da kriegen wir Bomben u. Artillerie. Es ist so seltsam, man kann jeden Tag sterben. „Trifft's heute nicht, trifft es doch morgen u. trifft es morgen, so lasset uns heut noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit!“ – Ich wäre schon bereit zu sterben, nur habe ich Angst vor dem Todesgrauen im Keller. – Für Bertel fürchte ich nur, weil es für Mutti so schrecklich wäre. Ich selbst würde bereit sein, ihn zu opfern. Frau L. hat ja auch ihr Lebensglück geopfert. Lieselotte G.
Zitiert nach I. Hammer/S. zur Nieden (Hrsg.), „Sehr selten habe ich geweint“. Zürich 1992
Recherche: Jürgen Karwelat
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