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Berliner TagebuchGroteske Szene

■ Berlin vor der Befreiung: 26. April 1945

Foto: J. Chaldej / Voller Ernst

Unwirklicher Abend bei Gründgens: kleiner, festverrammelter Souterrainraum, Kerzenbeleuchtung, Sekt. Ein paar Stunden ist es, als wäre der Krieg ferner gerückt. Diskussionen um das, was kommen wird. Scrullo sagt etwas Merkwürdiges, etwas, das uns alle angeht. Er sagt: „Es war unser Schicksal, immer ,dagegen‘ sein zu müssen, und wir wären doch so begabt gewesen, ,dafür‘ zu sein.“ Er meint damit: für Menschlichkeit, für geistige Freiheit hätte ich mich begeistern können. Für manches andere noch. „Für das hier – ? Neeee!“ Geri sagt: „Man wird eine neue Lebensform finden, gerade wir, die Erfolg hatten, können auf äußere Glücksmöglichkeiten verzichten. Beruf, Kunst – wir haben das alles gelebt, uns bis zu einem gewissen Grade erfüllt.“

Später eine groteske Szene in der Küche. Gründgens holt Ölsardinen, Wiener Würstchen in Dosen, Weitkamp schneidet Brot. Es gibt selbstgemachte Leberpastete und wir tafeln, von Kerzen sanft beleuchtet, gefräßig und glücklich am Küchentisch, als wäre das die Erfüllung dieses merkwürdigen Tags. Scrullo stürzt sich auf die Ölsardinen; sein breites, jungenhaftes Gesicht mit den vorgebauten Backenknochen leuchtet gesund und rot zwischen Geris blassem, durchgebildeten Kopf und den merkwürdig wechselnden Zügen von Gründgens. Dazwischen dauernd Detonationen, Einschläge, etc. Edith sieht mich, etwas blaß, an und ich sage dann „Flak“ oder „eigener Abschuß“ – als wüßte ich Bescheid. Im Grunde weiß nämlich niemand, wie wir bei anderer Gelegenheit merken, auch die Truppe nicht, wo und wann etwas schießt. Später siedeln wir in den fensterlosen Mittelraum um – eigentlich ist es ein Treppenflur, von dem aus man in die Wohnung gelangen kann. Hier wirkt alles wie eine Theaterinszenierung. Karla Höcker

„Die letzten und die ersten Tage“, Verlag Bruno Hessling, Berlin 1966

Karla Höcker (geb. 1901), bis 1937 Bratschistin beim Brunier- Quartett, freie Schriftstellerin und Musikjournalistin

Recherche: Jürgen Karwelat

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