Berliner Tagebuch: Man hält den Atem an
■ Berlin vor der Befreiung: 6. Mai 1945
Foto: J. Chaldej / Voller Ernst
Ich muß schon sagen: das nächtliche Warten auf Bomben oder Granaten finde ich viel weniger nervenaufreibend als das auf fremde Männer. Ich habe halt vor explodierendem Eisen viel weniger Angst als vor explodierenden Menschen. Zwei Nächte habe ich mit Schlafmitteln durchgeschlafen und daher nichts gehört und erst am Morgen erfahren, was passierte: Frau Hartmann im Hinterhaus viermal vergewaltigt: Frl. They, die ich gar nicht kenne, eine 200%ige Nazi, der es alle von Herzen gönnen, einmal; beim Elektriker jede Nacht eingebrochen, Matratzen, Betten, Wäsche, Anzüge geholt usw. Bei mir haben sie nachts auch geklopft, erzählte Frau Mietusch, aber bescheiden, und da ich in meinem Schlafzimmer am Ende eines schlauchartigen Ganges nichts höre, so wußte ich es nicht einmal. Heute nacht fand ich aber, ich müsse auch einmal wieder ohne Schlafmittel schlafen, und da hörte ich dann einen rechten Krawall: Klopfen, Rufen, Gegen-die-Tür-Schlagen; dann wieder Pause; Schritte auf den Treppen. Man hält den Atem an nach allem, was man erfahren hat. – Eine russische Kommandantur mit Anhang hat das ganze Quartier um den Südteil des Lietzenseeparks besetzt; die beiden Straßen links und rechts der Postdirektion sind für unsereinen gesperrt, wohl auch die hintere Querstraße. Die besseren Russen wohnen in den Häusern. Die kommen dann zu den nächtlichen Besuchen. Margret Boveri
Aus: „Tage des Überlebens“, Berlin 1945, R. Piper & Co Verlag, München 1968
Margret Boveri (1900-1975), bis 1937 außenpolitische Redakteurin des „Berliner Tageblatt“, 1937-43 Auslandskorrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ in Stockholm, New York und Lissabon, 1944-45 freie Publizistin in Berlin für „Das Reich“, dort noch in Nr. 12/22.4. 1945 „Ein Feind Deutschlands – Zum Tode von Franklin Delano Roosevelt“.
Recherche: Jürgen Karwelat
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