Berliner Szenen: In der Apotheke
Nachtschicht
Ich habe eine Freundin, die ab und zu die Nachtschicht in zwei Neuköllner Apotheken übernimmt. Schon oft hat sie mir von nächtlichen Kuriositäten erzählt; von Leuten, die um Mitternacht an der Apotheke klingeln, um sich eine Packung Pflaster zu kaufen, oder von solchen, die auf den Nachtzuschlag mit „Nee, dann kauf ich es doch nicht. So wichtig ist es ja auch gar nicht“ reagieren. Oder von einem jungen Mann, der für seine Freundin eine „Abtreibungspille“ kaufen will, weil sie in dieser Nacht beschlossen hätten, das Kind doch nicht mehr zu wollen, sich aber dann im Gespräch herausstellt, dass sie schon im sechsten Monat schwanger ist.
Aber die Szene, die meine Freundin mir nun erzählte, ist es besonders wert, aufgeschrieben zu werden: 23.43 Uhr. Ja, meine Freundin schaut ganz genau auf die Uhr, wenn sie vom Schlafen oder Filmeschauen abgehalten wird. Es ist also 23.43 Uhr, als die Nachtglocke schrillt. Schlaftrunken bewegt sich meine Freundin aus dem Bett in Richtung des kleinen Guckfensters. Davor steht eine Frau mit einem etwa einjährigen Kind im Arm. Sie reibt sich die Augen. Ist da wirklich ein einjähriges Baby, das eigentlich nicht auf die Straße, sondern ins Bett gehört? Sie fragt die Frau, was sie bräuchte.
Nach einem einminütigen Monolog stellt sich heraus: Die Befürchtung ist groß, dass ihr Kind eine Laktoseintoleranz habe. Denn immer wenn sie ihm ein Fläschchen mit laktosehaltigem Pulver gibt, muss das Baby pupsen. Sie möchte eine Diagnose. Meine Freundin entgegnet, dass diese nur ein Arzt geben könnte, aber ob sie es denn schon mal mit einem laktosefreien Pulver versucht hätte. Ja, und dann ginge es dem Baby gut, meint die Frau. „Gut, dann haben Sie sich ja eigentlich schon selbst die Diagnose gegeben“, sagt meine Freundin und schließt das Guckfenster wieder.
Eva Müller-Foell
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