Berliner Szenen: Sein letzter Wille
Der Schmetterling
Vor Kurzem, es herrschten noch frostige Temperaturen, entdeckte ich drinnen auf der Fensterbank meines Treppenhauses einen Schmetterling. „Ist er tot?“, dachte ich. „Ob er wohl schockgefroren ist?“ Ich schaute ihn mir an: Die geschlossenen Flügel waren schwarz. Und doch, als ich meine Hand annäherte, öffnete der Schmetterling seine Flügel und zeigte eine Palette lebendiger Farben. Symmetrisches, wunderschönes Design.
Ich fand es erstaunlich, wie laut der Schmetterling flatterte – und glaubte, man könne das Echo seiner Flügel im ganzen Treppenhaus hören. Er wird sterben, dachte ich und entschied, ihn mit nach oben zu nehmen und auf einem Blumentopf bei mir am Fenster zu lassen, damit es etwas mehr nach Natur aussieht. Eine nettere Sterbekulisse.
Auf dem Weg zu meiner Wohnung hörte der Schmetterling auf, sich zu bewegen. „Bitte nicht!“, sagte ich ihm oder mir und beeilte mich. Als ich ihn auf die Erde legte, bewegte er sich wieder. Erleichtert atmete ich auf.
Plötzlich flog er mehrere Male gegen die Fensterscheibe und ich glaubte ihn zu verstehen: Er wollte auf den Balkon. Meine guten Absichten hatten nicht gereicht, er wollte doch lieber an die frische Luft, im „echten“ Draußen sein. Seine „Geste“ war doch wohl so zu deuten. Viel mehr machte ich mir Sorgen, weil Minusgrade herrschten. Trotzdem machte ich die Balkontür auf und transportierte ihn vorsichtig zu einem Blumentopf, in dem etwas Grün zu sehen war.
Dann ging ich in die Küche, machte die Tür hinter mir richtig zu und beschäftigte mich mit dem Haushalt und anderen Aufgaben, die ich zu erledigen hatte. Hatte ich wohl den letzten Willen des Schmetterlings erfüllt (falls Schmetterlinge so etwas haben)? Oder hatte ich ihn getötet? Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken.Luciana Ferrando
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