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Berliner SzenenAuf dem Boddinplatz

Repertoire begrenzt

Ich überlege, ob es zu kitschig wäre, ihm Danke zu sagen

Als ich mein Haus verlasse, höre ich jemanden auf der Straße eine Pop-Ballade a capella singen. Ich laufe zum Boddinplatz, und die Stimme wird klarer und lauter. Ein junger Mann in Jogginghose und mit einem Schweißband singt da vor sich hin. Auf der Bank hinter ihm liegen seine Tasche, eine große Wasserflasche und einige Blätter. Ab und zu macht er eine Pause, liest kurz in seinen Blättern und fängt mit demselben Lied von vorne an, als würde er für The Voice of Germany proben. Theatralisch bewegt er seine Hände immer wieder zu seinem Herz und dann Richtung Himmel.

Ich habe das Gefühl, seine Stimme würde sich im ganzen Kiez verbreiten und jede Ecke füllen.

Eigentlich bin ich verabredet, doch meine Verabredung wird auf mich warten müssen: Nicht jeden Tag singt jemand auf eine so wunderschöne Art und Weise fast vor meiner Haustür. Auch wenn das Repertoire begrenzt ist, kann ich nicht aufhören zuzuhören.

Andere Passanten bemerken den Sänger auch. Einige schauen ihn neugierig oder belustigt an, andere gehen an ihm vorbei und zeigen ihm als Geste der Anerkennung den Daumen. Ein Mann filmt ihn mit seinem Handy, ohne vorher zu fragen oder sich nachher zu verabschieden. Der Sänger lässt sich nicht irritieren und singt weiter.

Ich überlege, ob ich ihn frage, ob er für einen Auftritt übt und ob es zu kitschig wäre, ihm Danke zu sagen. Ich lasse es sein und bereite mich langsam darauf vor, mich auf den Weg zu machen.

Plötzlich bleibt eine Frau neben mir stehen und hört eine Weile zu. „Er singt so schööön, oder?“, sagt sie, als hätte sie „wie süüüß“ gesagt. Ich nicke und lächle. „Und Sie haben ganz schöne Ohrringe! Und was für ein schöner Tag!“, sagt die Frau. So, als hänge alles miteinander zusammen. Luciana Ferrando

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