Berliner Szenen: Ein Herr vor dem Herrn
Feiner Zwirn
Vor nicht allzu langer Zeit, an einem der letzten warmen Tage. Ich steige in die U-Bahn am Rathaus Steglitz. Mir gegenüber nimmt eine Erscheinung Platz. Gegen diesen Mann wirken alle Menschen drumherum, als hätten sie bloß wahllose Lumpen angezogen, die Spätsommerhitze macht offenbar jeglichem Wert auf Stil den Garaus. Nur nicht bei diesem Herren vor dem Herrn, wovon noch zu berichten sein wird.
Das Jackett seines graukarierten Anzugs faltet er sorgfältig über die Knie und legt zwei Smartphones neben sich ab, das eine in einer schwarzen, das andere in einer weißen Hülle. Sein tadellos gebügeltes Hemd ist zartrosa, hat feine lilafarbene Gitterlinien, darüber schimmert die Krawatte mit einem Muster in dunklerem Lila und Königsblau. Der Mann beginnt, in einem großen, etwas abgegriffenen Buch zu blättern, manche Seiten sind mit Klebezetteln markiert. Ich schiele auf die Kapitelüberschriften. „Never talk fear!“, steht da und „Build up yourself most holy faith on you“, oder so ähnlich.
Geschrieben hat das Buch, wie ich später herausfinde, ein gewisser Pastor Chris, ein neupfingstlerischer Prediger, der Frauen von Brustkrebs und Kinder von Autismus heilt, Gehörlose hörend macht, Menschen vor Schlaganfall schützt, solche Sachen. Der Prediger hat Anhänger in aller Welt, auch eine Gemeinde in Berlin. Im Internet sehe ich ein Video von einem Gottesdienst in Tiergarten, aufgenommen vor wenigen Tagen. Eine Frau rennt und hüpft kreischend durch den Raum, nachdem sie der Prediger zum Weinen gebracht hat und ihr seine flache Hand aufs Gesicht drückte. Auch er tadellos gekleidet. Schwarze Hose, weißes Jackett.
Beim Aussteigen sehe ich die blank geputzten Schuhe meines Gegenübers. Zur Hölle mit allen Seelenfängern in feinem Zwirn.
Franziska Buhre
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