Berliner Szenen: Wiener Vereinigungsmaß
Selbstgespräch
Ein heißer Sommertag. Heute begegnet dir dein Traumtyp, sagt sein Horoskop. Aber an diesem Tag begegnen ihm nicht viele Frauen. Er geht ein wenig im Kiez spazieren, in dem Viertel, in dem er seit einiger Zeit schon wohnt, keine Ahnung, zehn Jahre oder zwölf? Eine gefühlte Ewigkeit.
Da kommt eine, die ein hellbeiges Kostüm und einen Geigenkasten trägt. Eine junge Frau, die hat einen Termin im Pfarramt. Brille, strenge Frisur, zurückgekämmt, mittelblond, Zopf. Sie ist durchaus weiblich, ohne übergewichtig zu sein.
Oh, er kennt sie. Es ist seine Ex. Er spricht sie an. Sie sagt, sie gebe jetzt Geigenunterricht. Er rümpft die Nase, er räuspert sich, er spricht.
„Nackt gefällst du mir besser. Das steht dir besser als diese Kleidung.“ – „Wie bitte? Was soll das denn heißen?“ – „Du weißt dich nicht zu kleiden. Du hast keinen Stil.“
Beleidigt dampft sie ab. Sie klingelt beim Pfarramt und verschwindet in einer Tür. Klar, was hat er denn gedacht? Dass sie sich freut über diese Beleidigung?
Die Vögel zwitschern weiter. Er kauert sich auf eine Parkbank und denkt nach. „Warum trägt sie keinen Ring?“ – „Doch, sie trägt einen.“ – „Aber ist das nicht der falsche Finger? Sie trägt ihn am Mittelfinger! Und schau, ein Ehering ist das sowieso nicht.“ – „Du hast vergessen, sie zu heiraten. Sie gehört einem anderen inzwischen.“
Das Wiener Vereinigungsmaß.
„Sicherlich hat sie auch irgendeinen Fehler. Geigenunterricht! Sie lügt dich an, weil sie denkt, dass die Wahrheit dir nicht zugemutet werden kann. Ist es das? Ist das der Grund?“ – „Sagst du immer die Wahrheit?“ – „Nein, bestimmt nicht, aber ich lüge nicht, um irgendwen zu schonen.“
Dann fällt ihm wieder ein, wie Flirten geht. Er hatte es lange vergessen. René Hamann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen