Berliner Szenen: A typical Kreuzberger
Montag, Dienstag?
Jeden Morgen, wenn ich um die Ecke zu Brandi gehe, um meinen Morgenkaffee zu trinken, ruft mir von oben herab eine Stimme zu: „Hallo, ist heute Montag oder Dienstag?“ Inzwischen gehe ich einfach weiter und hebe nicht mal meinen Kopf. Die Stimme stammt von einem etwas verwahrlosten, hageren Mann mit langen Bartstoppeln und zerzausten weißen Haaren. Die ersten Male sagte ich: „Dienstag.“ Oder: „Montag.“ Der richtige Tag ist nämlich bei der von ihm vorgeschlagenen Auswahl immer dabei. Zuerst dachte ich, der Arme hat Alzheimer. Aber nach dem 10. Mal fiel es mir schwer, diese These aufrechtzuerhalten, denn ein Alzheimer macht nicht ständig das Fenster auf, um Passanten nach dem richtigen Wochentag zu fragen.
Auch andere Leute stellt er auf die Probe. Meistens Touristen, die ihm freundlich Auskunft erteilen und dabei denken: O, a typical Kreuzberger. It’s so nice. Isn’t it? Und schon wieder eine gute Tat vollbracht. Manchmal sagt er „Danke.“ Ich überlege, welche Befriedigung der Mann aus seiner Tätigkeit zieht.
Seit Neuestem hat er sein Repertoire verfeinert. Manchmal fragt er jetzt auch nach dem Datum. Dann bleiben die Touristen stehen und holen ihr Handy hervor, denn da steht es, das richtige Datum. Einmal gebe ich einen falschen Tag an. Ich glaube, ein empörtes Schnauben gehört zu haben, weil ich die Spielregeln missachtet habe.
Im Brandi sitzt ein Mann mit seiner Tochter. Sie quengelt und nölt. Der Mann sagt verständnisvoll: „Schatzi, mach doch, wie du dich am besten dabei fühlst.“ Dann liest er weiter Zeitung. Ich frage mich, was „Schatzi“ mit diesem Rat anfängt. Sie sieht nicht glücklich aus. Eine Eingebung sagt mir, dass sie das auch später nicht sein wird. Ich sehe in die Zukunft, wie sie das Fenster öffnet und nach unten ruft: „Ist heute Montag oder Dienstag?“ Klaus Bittermann
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