Berliner Szenen: In der U-Bahn
Der Erlkönig
Ich saß in der U5 und beobachtete all die Menschen, die offenbar keine Minute ohne ihr Mobiltelefon sein können. Abgesehen von kleinen Kindern und betagten Erwachsenen gab es kaum einen Fahrgast, der nicht irgendetwas spielte, hörte, ansah, las, schrieb oder telefonierte. Neben mir saß eine junge Mutter, zu der ein etwa dreijähriges Mädchen gehörte, und zwei junge Kerle, einer davon der Vater. Die drei Erwachsenen, eher Halbwüchsige, mit diversen Ringen im Gesicht und Tattoos am Hals, starrten auf die Displays ihrer Geräte und zeigten sich immer wieder virtuelle Fundstücke, über die sie sich schlapplachten. Das Kind aus Fleisch und Blut beachteten sie nicht.
Erleichtert stellte ich fest, dass die kleine Kreatur kein Handy in seinen Patschehändchen hielt. Doch es war traurig zu sehen, wie es teilnahmslos vor sich hinstarrte und ab und an müde mit den Füßen wippte. Als die Erziehungsberechtigten und ihr Kumpel in besonders lautes und dreckiges Lachen ausbrachen, schaute der kleine Wurm erschrocken zu ihnen hoch.
Ich verrenkte mir den Hals, um sehen zu können, was sie so amüsierte. Zu meiner großen Überraschung las ich die erste Zeile einer bekannten Ballade aus dem 18. Jahrhundert. „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ Der Erlkönig von Goethe passte so gar nicht zu den dreien.
Doch die Jungs boxten sich vor Begeisterung gegenseitig auf die Oberarme. Und auch die junge Mutter kriegte sich kaum ein vor Lachen. Noch einmal verrenkte ich mir den Hals. „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Meine Freundin auf mir. Wir wollen ein Kind.“ Als ich am Frankfurter Tor ausstieg, schaute ich noch einmal zu dem traurigen Kind und dachte an die letzten Zeilen des Erlkönigs: „Erreicht den Hof mit Mühe und Not. In seinen Armen das Kind war tot.“ Barbara Bollwahn
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