Berliner Szenen: Kummerzahn
Fatal, fatal
Es tut weh im unteren linken Backenzahnbereich. „Wie weh?“, fragt der Zahnarzt im Kreuzberger Graefekiez. „So weh halt“, sage ich, „bin aber nicht so schmerzempfindlich.“ Zero points für meine Antwort: Der Bader beschließt, im oberen rechten und schmerzfreien Backenzahnbereich Hand anzulegen. „Für mehr bleibt heute nicht die Zeit, wir haben Feierabend.“ Gesagt, getan, Patientin überrumpelt, Bohrer surrt.
Als ich mich gerade in mein Schicksal füge, fällt mir doch noch ein, dass man vorrangig zum Arzt geht, um akutes Weh einzudämmen. Ich sage mit drei Apparaturen im Mund: „Stopp!“ Die Assistentin und der Arzt schauen mich konsterniert an. Als ich meinen Wunsch nach Behandlung im unteren linken Backenzahnbereich äußere, „weil, da tut es mir heute weh“, ist der Doc sauer. Ja, er schimpft richtig und ich weiß gar nicht, wie mir auf meinem Behandlungsstuhl geschieht, von wegen Dienstleistungsgesellschaft und so. „Ich hatte mir heute etwas anderes für Sie vorgenommen“, ruft der Zahnarzt entrüstet.
Wenig später breaking news an der Schmerzensquelle: „Der Zahn muss raus. Die Karies ist zu weit in die Wurzel vorgedrungen.“ Reflexartig und mit betäubtem Mund fasele ich etwas von „zweite Meinung einholen“. Beleidigt meint mein Bader, ich vertraute ihm nicht. „Nur raus hier!“, denke ich und irgendwann bin ich auch draußen. Ich stehe am Geländer der Baerwaldbrücke, es ist dunkel, eine Eisscholle schwimmt im Wasser, darauf eine Ente, die sich treiben lässt. Ein Mann in einer klobigen Winterjacke gesellt sich zu mir, sucht unbeholfen das Gespräch. „Also, ein Kind hält so eine Scholle nicht aus. Das würde untergehen.“ Ich nicke stumm, dann sagt der Mann: „Entschuldigen Sie, dass ich ein wenig nuschele. Ich bin in zahnmedizinischer Behandlung. Schönen Abend noch!“ Harriet Wolff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen