Berliner Szenen: Apokalypse Berlin
Ausgestorben
Irgendetwas Schreckliches musste Berlin zugestoßen sein. Denn als ich erwachte und vor die Türe ging, da waren die Straßen leer, die Ladengitter der Geschäfte hinuntergelassen und die Bars wie ausgestorben. Auf dem Kottbusser Damm verkehrten kaum Menschen, im Reuterkiez waren weit und breit keine Galeristin und kein Galerist zu sehen. Es war surreal warm für Winter. Ganze Landstriche am Maybachufer waren enthipstert. Entlang der ehemaligen S-BahnTrasse zwischen Görlitzer Park und Elsenstraße stand kein einziger Dealer. Nur ein Typ im Trigema-Trainingsanzug mit Stirnband kam mir entgegen. Björn Borg? Jesus? Jedenfalls der einzige Überlebende – neben mir.
Eine Katastrophe musste die Stadt heimgesucht haben, nur ich hatte sie verschlafen. Waren die Chemtrails schuld? Hatten die Montagsdemonstranten nicht schon immer gewarnt, uns würde Schlimmes bevorstehen? Oder war es doch ein grausames Beben gewesen? Waren die Urstromtal- und Auf-Sand-gebaut-Geschichten Quatsch und Berlin seit jeher tektonisches Gefahrengebiet?
Ratlos schlich ich durch die Straßen. Stille allerorts. Ich war gerade auf dem Weg zum Imren Grill – der, so dachte ich, würde auch nach der Apokalypse noch geöffnet haben –, da kam ich an einem Späti vorbei, dessen Pforten nicht geschlossen waren. Es prangte gar eine Zeitung am Zeitungsständer. Ich schnappte sie mir.
Von der Seite raunte mich ein Betrunkener an. „Gibt’s heute wirklich ne Zeitung?“ Er hatte ja recht: eine Zeitung, nach dem Weltuntergang? Ich blickte auf das Datum. „Von gestern“, sagte ich zu dem Betrunkenen. „Von gestern“, lallte er, „ist auch besser.“
Wenige Sekunden später realisierte ich, welches Datum darauf zu lesen war: 24. 12. Die Katastrophe hörte auf den Namen „Weihnachten in Berlin“.
Jens Uthoff
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