Berliner Szenen: Die gute Tat
Verzauberte Nacht
Als ich vor der mitternächtlichen Kulturbrauerei vom Gehsteig auf die Straße rolle, quietschen Bremsen. Ja, ja, ich weiß, auch im Prenzlauer Berg gelten um diese Zeit noch Verkehrsregeln, die vorsehen, dass man nicht einfach einem anderen Verkehrsteilnehmer vor die Nase fährt. Ich kann noch nicht mal Alkoholgenuss als Begründung für riskante Manöver auf der Straße vorbringen. Ich habe einfach nicht aufgepasst.
Der Fahrer des Autos, der wegen mir bremsen musste, kurbelt das Beifahrerfenster runter. Ich stelle mich – mit angezogener Bremsen – geistig auf die Berliner Grobheiten ein, die nun zwangsläufig folgen müssen.
Aber nein. Der Autofahrer ruft mir durch das heruntergedrehte Fenster zu: „Sorry, hab’ dich nicht gesehen.” Dann winkt er mir, von rechts nach links, und ich rolle brav über das Kopfsteinpflaster Richtung Alexanderplatz. Habe ich etwa sogar noch „Schönen Abend” gehört?
Muscle Memory übernimmt, meine Gedanken sind wieder woanders, und als ich das nächste mal Achtsamkeit hätte praktizieren müssen, wäre ich beinahe in ein Gruppe von jungen Leute geradelt, die auf dem Bürgersteig der Heinrich-Heine-Straße zu campieren scheinen.
Statt sich über den Beinahe-Unfall aufzuregen, fragen sie mich: „Alta, wo is’n hier so’n Club, wo wir jetzt richtig abgehen können, am besten bis morgen Mittag?” Ich schicke sie zum Tresor, von dem sie noch nie gehört haben. Sie freuen sich ehrlich, als wäre das ein riesen Geheimtipp, so wie Leute aus Halle oder Dortmund, die in der Hauptstadt zu Besuch sind. Nicht so wie Großstädter, die sich verlaufen haben und das nicht zugeben wollen.
Das war eine verzauberte Nacht. In dem Sinn, dass man jeden Tag eine gute Tat tun soll, und sich dann am nächsten Morgen beim Aufwachen besser fühlt. Tilman Baumgärtel
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