Berliner Szenen: Schwarzer Weltschmerz
Walfisch mit Beute
Eine Bahnhofsmission, daneben ein Schnellimbiss asiatischer Natur. „Der Imbiss-Hit aus Vorderasien“. Im Hauptbahnhof. Irritierte Passanten. Alle suchen etwas, die anderen warten und schauen den Suchenden beim Suchen zu.
Auch ich wartete. Ich aß Nummer 12 (mit Stäbchen!) und wartete. Irgendein Radio dröhnte. Man hörte der Musik ihre Heruntergeladenheit an. Es war Michael Jackson. Billie Jean. Ich war tief bewegt.
Sie wartete auch; sie wartete mit ihren zwei Söhnen am oberen Gleis. Sie trug Schwarz. Sie war nicht in Trauer, im Gegenteil, aber sie hatte für sich ein Jahr ausgerufen, in dem sie nur Schwarz tragen wollte. Aus Weltschmerz. Schwarze Kleidung: eine Mode, die in Paris schon seit einem halben Jahrhundert passé ist, las ich irgendwo. Dumm nur, dass Paris selbst schon ein halbes Jahrhundert passé ist.
In Treppenhäusern ging sie immer die Wand entlang, immer möglichst nah an der Wand. Sie versuchte, die räumliche Kontrolle zu behalten. Sie war ein Walfisch mit einer Beute.
In Wahrheit trug sie Ballerinas und ein wallendes türkisfarbenes Oberteil und wartete nicht, hatte auch keine Kinder, sah aber schwanger aus. Hochschwanger. Da kam endlich ihr Zug angeschlichen.„Sie geht wie eine Schwangere.“„Sie ist schwanger.“
Und nein, sie war nicht meine Freundin, und das kommende Kind war nicht meins. Sie war meine Geliebte, bevor sie sich für dieses Kind entschied. Für dieses Kind hatte ihr rechtmäßig angetrauter Ehemann gesorgt. Jetzt hatte sie keine Scheu mehr, ihren Ehering zu tragen. Billie Jean, Michael Jackson.
Ich schob sie in den Zug, der sie in den Westen brachte, nach Hause zu ihren Eltern, und fuhr vom Bahnhof aus mit der neuen U-Bahn zurück in die Redaktion. Das Essen lag mir schwer im Magen. René Hamann
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