Berliner Szenen: Türkeiwahl
Düstere Aussichten
„Da haben die doch dran gedreht“. Den meisten steht ungläubiges Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie an dem milden Sonntagnachmittag am Kotti eintrudeln und auf den Großbildschirm starren, den die Kreuzberger HDP vor dem Südblock aufgestellt hat. „50 Prozent für diese Verbrecher, die HDP hat in Istanbul bloß 9, ich fasse es nicht“ zischt Özlem mit versteinertem Gesicht. Bei der Wahlparty vor fünf Monaten tanzten hier noch alle.
Heute Abend stehen alle mit gesenkten Köpfen herum, starren in ihre Smartphones, murmeln Verwünschungen. Bülent klammert sich noch an eine vage Hoffnung: „Von wegen 71 Prozent der Urnen sind ausgezählt.“ Hektisch scrollt er seine Twitter-Meldungen herunter. „Auf der Website der Hohen Wahlbehörde steht, es sind erst 33 Prozent ausgezählt. Die Agenturzahlen im Fernsehen sind psychologische Kriegsführung.“ Doch die Ergebnisse hellen nicht auf, immer dunkler wird die Nacht. „Nein, ich will diesen Heuchler nicht sehen“, ruft Buket und schlägt die Hände vors Gesicht, als auf dem Bildschirm das grinsende Gesicht von Premier Davutoğlu auftaucht. Plötzlich kommt Bewegung in die Masse. Auf einem Balkon des Wohnturms hinter dem Flachbau haben ein paar Bewohner die türkische Flagge entrollt. „Lang lebe Öcalan“, skandieren ihnen die unten entgegen. Ein Böller fliegt nach oben, entlädt sich krachend. Blitzschnell spurtet ein Stoßtrupp 1.-Mai-gestählter PolizistInnen durch die Menge und macht die Werfer dingfest. Es sah deprimierend symbolisch aus, als die Jungs der HDP spät nachts das Plakat „Hemen Barış! Hemen Demokrasi! - Frieden jetzt! Demokratie jetzt!“ einrollen, das sie zwischen zwei Laternenpfähle an der Skalitzer Straße gespannt hatten. Jetzt wird aufgeräumt. Morgen vermutlich am Bosporus. INGO AREND
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