Berliner Szenen: Bullshit-Bingo
Praktikumsende
Es war definitiv keine gute Idee, nach meinem letzten Praktikumstag mit Rollkoffer, Rucksack und einem separaten Tütchen für die Shampooflasche, deren Artgenossen mir schon so oft ausgelaufen waren, vom taz-Gebäude in Kreuzberg zum Hauptbahnhof zu laufen, gleich am Anfang des Wegs bei einer großen Fastfoodkette irgendeinen Schranz mit Getränkebecher zu kaufen und damit also auch noch eine Tüte mehr anzusammeln.
Obwohl ich frühzeitig losgehe, komme ich ganz schön ins Schwitzen, weil ich noch mein Fahrrad holen muss, das ich am Vortag in Bahnhofsnähe abgestellt hatte. Nach etwas mehr als einer Stunde Menschenmengen-Durchdrängen stehe ich endlich auf dem Bahnsteig, stelle fest, dass das Getränk umgekippt ist und die Fresstüte samt Inhalt total durchweicht hat, und stopfe in den verbleibenden zehn Minuten, bis auf die Pommes, alles noch halbwegs Essbare in mich hinein; gesättigt steige ich in den Zug.
Mir gegenüber sitzen ein kleiner, dünner Mann und eine große, breite Frau. Er muss am Napoleon-Syndrom leiden (was bei dieser Konstellation durchaus verständlich ist) – denn er erzählt ganz wissend, dass, „wenn wir noch mehr aufnehmen“, bald „die Stimmung kippt“. Mit „Überforderung“ macht er das Bullshit-Bingo voll. Ich mampfe kalte, weiche Pommes ohne Ketchup; als ich dieses Wort höre, beiße ich mir kurz auf die Zunge. Dass ich ihn demonstrativ entsetzt anglotze, stört den Mann nicht: „Die Osteuropäer sind ja noch viel weniger aufnahmebereit als wir. Das kann man nicht ändern, das ist eben deren Mentalität. Und die Amis würden das überhaupt nicht verstehen, wie wir uns hier die Leute einfach so ins Land holen.“ Seine Begleitung nickt unterwürfig. Beide stehen auf und steigen geschäftig aus – glücklicherweise schon am Südkreuz. Die Pommes sind alle. Adrian Schulz
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