Berliner Szenen: Gespräch beim Vietnamesen
Musiktherapie
Ich mag vietnamesisches Essen. Ich mag auch die vietnamesischen Restaurants im Süden der Stadt, weil sie meist klein sind, unübersichtlich, dafür gut und preisgünstig. Die Bedienungen sind alles andere als asiatisch freundlich, vielmehr wirken sie oft genervt und pfeifen auf die Etikette. Kommt man in den Imbiss, zum Beispiel in den in der Karl-Marx-Straße, ist der meist voll, also wird man irgendwohin platziert, was den Vorteil hat, dass man so mal Leute kennenlernt, was in Berlin sonst ja eben nicht so einfach ist.
Oder man hört wenigstens ihre Gespräche mit. Man hört einem Mann zu, der zu einer ungefähr gleichaltrigen und nicht unattraktiven Frau gesetzt wurde. Und wie er ohne Umschweife beginnt, aus seinem Leben zu erzählen. Man hört, dass er Angst vor Rolltreppen hat und dass das eine sehr gesunde Angst ist, weil er so immer die Treppen nimmt. Man hört, dass die Frau einen Freund hat – eine Frau, vergeben oder nicht, wird in Anbetracht einer impertinenten Anmache keine drei Sätze warten, bevor sie nicht die Information einflicht, dass sie einen Freund hat, und sie wird, noch ein Grundgesetz, ihren Freund in so einem Gespräch mindestens fünf weitere Male erwähnen.
Den Mann, ungefähr Mitte vierzig, undeutliche Ausstrahlung, Fahrradhelm, Pilotenbrille, stört das überhaupt nicht. Er redet über Musiktherapie, über Instrumente (ah, sie hat einen Geigenkasten dabei) und dass er selten in dieser Ecke der Stadt unterwegs ist, weil er raus nach Pankow gezogen sei.
Werden sie sich wie alle anderen Zufallsbekanntschaften nach dem Essen trennen und nie wiedersehen? Oder wird sie trotz seiner Ignoranz der Freund-Floskeln auf Ungefährlichkeit setzen und sich einladen lassen? Ich werde es nicht herausfinden. Denn da kommt schon meine Rechnung.
René Hamann
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