Berliner Szenen: Fertig mit Sterben
Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier. Heute: Der fehlende Leichenwagen.
A uf dem Fahrradweg liegt ein toter Spatz. Einfach mitten auf dem Weg. Beinchen hoch, Äuglein zu, Leben zu Ende.
Ich bin vom Fahrrad gestiegen und hocke mich zu dem Vogel runter. Hallo, sage ich, bist du tot. Er sieht noch gut aus. Alles noch dran. Glaube nicht, dass er angefahren wurde.
Vielleicht vom Baum gefallen, Herzstillstand. Spatzenherzchenstillstand. Oder Hirnblutung. Spatzenhirnblutung. Ich stupse ihn mit dem Finger an. Kaputt. Da geht nichts mehr. Spatzi, Spatzi, sage ich, du Armer. Ich nehme ihn vorsichtig an den Beinchen hoch und lege ihn dicht neben den Baum. Niemand soll auf ihn rauftreten oder -fahren. „I once stepped on a dying bird, it was a mercy killing“, singt Amanda Palmer in einem Lied: „Ich trat einmal auf einen sterbenden Vogel, es war ein Gnadentod.“ Es schüttelt mich vor Kälte, als ich an diese Zeile denke.
Gut, dass der Spatz schon fertig ist mit dem Sterben. Ich ziehe ein Taschentuch aus der Tasche und lege es über das tote Vögelchen. Wie diese weißen Tücher, die sie in Krimis immer auf die Toten legen. Ich stelle mir vor, wie ein kleiner, schwarzer Spielzeugleichenwagen kommt und den Spatz abholt.
Wenn man aus Berlin kommt, denkt man immer, es gibt unendlich viele Spatzen auf der Welt. Stimmt aber gar nicht, der Spatzenbestand in Deutschland ist sogar ein bisschen gefährdet. Vor ein paar Jahren stand in den Nachrichten, dass der Spatz kurz vor der Roten Liste stehe. Wenn die Spatzen aussterben, bin bestimmt nicht ich schuld. Ich gebe ihnen immer ein paar Pommes ab, immer. Ich sage dem toten Spatz Tschüss und steige wieder aufs Fahrrad. Bevor ich nach Hause fahre, halte ich beim Bäcker.
Als ich mit der Brottüte wieder rauskomme, ist auf meinem Fahrradsattel ein dicker, weiß-brauner Klacks Vogelkacke. Und mein letztes Taschentuch liegt einen Kilometer entfernt neben einem Baum.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Bildungsforscher über Zukunft der Kinder
„Bitte nicht länger ignorieren“
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung