: Berliner Szene in der Provinz
■ Im Bremerhavener Stadttheater wird Volker Ludwigs „Linie 1“ in der Inszenierung von Klaus Hoser gespielt: Manches überzeichnet und klamaukig, aber nicht in die pure Klamotte abgerutscht
Im großen Haus des Stadttheaters gab es am Samstagabend eine Schauspielpremiere, die aus dem gutbürgerlichen Rahmen fiel: Volker Ludwigs Berliner-Szene-Stück „Linie 1“. 1986 vom GRIPS-Theater uraufgeführt und zwei Jahre später als Film mit dem goldenen Berliner Bären ausgezeichnet, zieht die musikalische Revue jetzt in die Theater der Bundesrepublik und macht auch vor der Provinz nicht halt.
Von dort kommt das Mädchen, das sich in „Linie 1“ aufmacht, die Geheimnisse der Großstadt zu entdecken. Im Untergrund der U-Bahn-Fahrten und Bahnhöfe stößt es auf einen Mikrokosmos der Gesellschaft über Tage. Auf engstem Raum sind Outsider und Insider, Alte und Ausländer, Punks, Penner und Prostituierte versammelt.
In der Inszenierung des Gastregisseurs Klaus Hoser hat das dramaturgisch gut gebaute Szene-Stück weder seinen Reiz als Revue, noch seinen satirischen Biß
verloren. Die Bühneneinrichtung (Artur Hamm) arbeitet geschickt mit zwei Ebenen. Auf dem Dach der U-Bahn-Welt sitzen die fünf Musiker der Band, die Jochen Peters („Lu Lafayette“) eigens für diese Inszenierung zusammengestellt hat. Sie spielen im Dämmerlicht hinter einem Gaze-Vorhang, der gelegentlich hochgezogen wird, wenn die Band in den Mittelpunkt rückt. Darunter: gekachelte U-Bahnhof-Wände mit kaltem Neon-Licht. Für die Szenen in der fahrenden U-Bahn werden nebeneinander oder schräg versetzt zwei Bänke mit Stützstangen auf die Bühne gestellt und Fahrgeräusche eingespielt. Ein sorgfältig konstruiertes Bühnenbild, das wesentlich zum Erfolg der Aufführung beiträgt.
Ebenso die Band. Jochen Peters als musikalischer Leiter der Inszenierung hat Musiker gefunden, die die Intermezzi zwischen den Szenen souverän spielen und die von Birger Heymann komponierten Songs des Stücks unauf
dringlich begleiten.(„Die Abfahrer“, wie sie sich nennen, sind Jochen Peters, Keyboards, Matthias Strass, Guitar, Rainer Braun, Drums, Stefan Helder, Saxophon, und Detlef Niemeyer als vorzüglicher Bassist)
Die Aufführung hätte trotz dieses gelungenen Rahmens danebengehen können, aber die elf Darsteller, fünf Frauen und sechs Männer, die annähernd 60 kleinste und größere Rollen spielen, zogen mit und verhinderten, daß das freche Spektakel in pure Klamotte umkippte. Denn darin liegt die größte Gefahr, und nicht alle Spieler waren vor der Versuchung gefeit, ihre Figuren zu überzeichnen, sich in Klischees zu retten. Das gilt nicht nur für den allzu lautstark grölenden Punk (Christian Theodoridis, der in anderen Rollen beser aussieht) oder den überzogen auf jung getrimmten Sozialarbeiter Bambi (Bernhard Kessler-Dirsch); es gilt auch für den Auftritt der Wilmersdorfer Witwen. Die „dum
men Puten, die die Pensionen ihrer Nazi-Männer in Schwarzwälder Kirschtorte anlegen“, wurden beklatscht, als säße das Publikum im „Blauen Bock“. Vielleicht, weil es Männer sind, die die „braunen Schmeißfliegen“ in ihren schwarzen Pelzmänteln spielen und aus der bösen Satire albernen Klamauk machen.
Andere Szenen rückten dies Bild wieder zurecht. Neben Hanno Wingler in mehreren Rollen sind es vor allem die Frauen, die überzeugen: Doris Prilop, Iris Heuchert und Hildegardt Schroedter. Iris Heuchert zeichnet präzise und gewitzt giftige ältere Damen und eine kämpferische Sozialistin. Die Überraschung des Abends ist die junge Schauspielerin Hildegard Schroedter. Sie singt und spielt eine verhärmte, arbeitslose Frau - als Gegenpart zum Provinzmädchen - mit allen nötigen Zwischentönen so überzeugend, daß die Rolle nicht ins sentimentale Klischee abgleitet. Claudia Knichel als großstadtu
nerfahrenes Mädchen bleibt dagegen farblos, und ihre gesanglichen Einlagen sind wegen der unbeabsichtigten falschen Töne peinlich. Aber die Schwachstellen und blassen Spieler gefährden nicht den Gesamteindruck: Dem Stadt -Theater ist ein riskantes Unternehmen geglückt. Dabei lag das Risiko weniger im ungewöhnlichen Sujet oder im seltenen Genre, als vielmehr im naheliegenden Versuch, die Berliner Szene billig auszuplündern und plattzuspielen. Das haben Ensemble und Regisseur vermieden.
Das etwas seichte Happy-End auf der Freitreppe im Bahnhof Zoo überspielten die Bremerhavener gekonnt, indem sie auf den minutenlangen und jubelnden Beifall mit mehreren Songs als Zugaben antworteten und die „Linie 1“ auf diese Weise erfolgreich in die Endstation fuhren.
hans happel
Termine: 25.1., 8., 10., 17., 21.2., 20.00 Uhr und 25.2. 19.30 Uhr.
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