Berliner Platten : Goodbye und Hallo: Jim Avignon hinterlässt zum Abschied von der Berliner Lumpen-Bohème ein paar krumme Chansons, und Rocket Freudental melden sich mit Punk-Expressionismus an
Lange Zeit war Jim Avignon in jedem Club zu Hause. Freundlich winkte er einem in den frühen Neunzigerjahren im E-Werk zu, oft sah man den Künstler, der zahllose Techno-Flyer gestaltet hat und mit comicartigen Graffiti-Wesen berühmt wurde, im Tresor oder WMF als verstrahltes Glücksbärchen hin und her springen.
Irgendwann hat er dann selbst Musik gemacht: Handliche kleine Lo-Fi-Elektronik-Hymnen. Nicht wirklich gut tanzbar, aber doch die Party rockend – spätestens zur Afterhour. Wer sich die Residents als standfeste Disco Pigs vorstellt, kommt der Idee hinter Avignons unter dem Namen Neoangin mittlerweile neun veröffentlichten Platten recht nahe. Insofern ist auch „Scratchbook“ mit seinen 26 Songs ein Resümee aus den Randgebieten des Berliner Clublebens, aus dem er sich nun Richtung New York verabschiedet hat. Unruhig trappelt eine antike Rhythmusmaschine, dazu seltsam melancholische Melodien, die einen weiten Weg von den Chansons eines Charles Trenet bis zum knarrigen Poetenglam von Serge Gainsbourg hinter sich gebracht haben. Very french, aber ohne den Filter-House-Touch. So müsste der Soundtrack klingen, wenn man auf dem Mond staubsaugt. Oder im Rio.
Dazu passen Texte, in denen Avignon nasal und müde allerlei Ungereimtheiten des „friendly capitalism“ besingt. Es sind Miniaturen aus dem Lumpenboheme-Alltag, über das Leben von Leuten, die gern gegen etwas wären, wenn sie nur wüssten, gegen was. Und weil Avignon als Künstler, ja Chronist dieser Bewegung ist, bekommt man im Booklet dutzendweise schöne Zeichnungen, die diese Widersprüche zum Schillern bringen.
Die Kehrseite des Dazugehörens haben Rocket Freudental noch vor sich. Anderes Netzwerk, ganz andere Baustelle. Hier meldet sich lautstark ein später Punk-Expressionismus, wie man ihn von Jonathan Meese, den „autocenter“-Aktivisten oder aus dem Umfeld der Galerie Maschenmode kennt, und zerrt mächtig an den Nerven. Kantige Beats, Gitarren- und Computerkrach, keine Rücksichten bei der Produktion. „Wir leben wie Gespenster“ trägt das Programm bereits im Titel: Wenn alle Erfahrungen schon gemacht sind, wie geht man dann mit den eigenen Wünschen und Begehrlichkeiten um? Die Liebe zu Krautrock und Disco, zu No-Wave und Politpunk wird hier nicht als nette Zitatspielhölle ausgebreitet, sondern jeder Stil muss unentwegt ins Säurebad der Dekonstruktion. Wer die Bestandteile erkennt, macht sich verdächtig; wer aber auf das große, neue Ding wartet, wird von dem aus Stuttgart übergesiedelten Duo André Möhl und Robert Steng auch enttäuscht. Rocket Freudental bewegen sich auf dem schmalen Grat, der Aneignung und Zerstörung voneinander trennt. Hippiesker Folk-Singsang trifft auf noisig-psychedelische Drones, der Refrain leiert kunstvoll auf einem Ton entlang, die Stimmung ist immer mächtig am Kippen zwischen Jubelrausch und Depressionskater. Damit besetzen Rocket Freudental eine Nische, von der man bisher gar nicht gewusst hat, dass sie existiert. HARALD FRICKE