Berliner Flüchtlingsrat wird 30: Mehr als viele Einzelfälle

Der Flüchtlingsrat feiert seinen 30. Geburtstag. Ein Teil der Arbeit ist die Härtefallberatung, die schon vielen geholfen hat. Doch der Verein will mehr

Protest gegen Abschiebungen Bild: dpa

Gino Mijailovic wurde in Bremen geboren. Seit seiner Geburt lebt der 20-Jährige in Deutschland, aber dazugehörig fühlte er sich nie. Mijailovic ist Rom - und staatenlos. Bis vor einem Monat galt er sogar als ausreisepflichtig. Nun sitzt er im Hof des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Charlottenburg. Es ist der Ort, an dem ihm die Härtefallberatung des Flüchtlingsrats half, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen.

Die Härtefallberatung ist jedoch nur ein Teil der Arbeit des Flüchtlingsrats, der am heutigen Donnerstag sein 30-jähriges Jubiläum im Grips-Theater feiert. Seit seiner Gründung 1981 als erster seiner Art in Deutschland betreibt der Verein unter dem Motto "Menschenrechte kennen keine Grenzen" politische Lobbyarbeit und setzt sich für die Interessen von Flüchtlingen ein. Erst zur Abgeordnetenhauswahl veröffentlichte der Verein einen Forderungskatalog, der die Probleme der Flüchtlinge, etwa die Lagerunterbringung, in die Öffentlichkeit tragen sollte. So möchte der Verein politische Veränderungen erreichen, um allen Flüchtlingen zu helfen - nicht nur den Einzelfällen.

Gino Mijailovic ist ein solcher Einzelfall. Auch sein Vater war Rom und besaß keine Staatsangehörigkeit. 2007 starb er. Seine Mutter kennt Mijailovic nicht. "Seit ich klein war, hatte ich immer nur Fiktionsbescheinigungen." Diese erlaubten ihm nur für einen befristeten Zeitraum den legalen Aufenthalt in Deutschland. So lange, bis geklärt werden könne, welche Staatsangehörigkeit seine Mutter hat: "Jahrelang musste ich die Fiktionsbescheinigung verlängern lassen, manchmal nach einem Monat, manchmal nach drei Monaten. Dabei ist das auch mein Land."

Dann habe die Ausländerbehörde festgestellt, seine Mutter komme aus Serbien, erzählt Mijailovic. Auch er solle dorthin ausreisen. "Aber ich kenne Serbien nicht, ich spreche nicht einmal die Sprache", sagt er. Trotzdem bekam er Ende Februar eine Grenzübertrittsbescheinigung und galt von nun an als ausreisepflichtig. Der letztmögliche Termin zur Ausreise stand schon fest, als der Flüchtlingsrat wenige Tage vor Ablauf der Grenzübertrittsbescheinigung Ende Juli beantragte, ihm über die Härtefallkommission zu einer Aufenthaltserlaubnis zu verhelfen - mit Erfolg.

Neben Gino Mijailovic sitzt Parisa Mazraeh Aghaei. "Vor fast zwölf Jahren bin ich mit meinen Eltern und meiner Schwester aus dem Iran hergekommen", erzählt die 29-Jährige. Bis 2008 dauerte es, bis der Asylantrag unanfechtbar abgelehnt wurde. Arbeiten und Geld verdienen durfte sie nicht. Dann wurde sie geduldet, war ausreisepflichtig, bekam dennoch für einen befristeten Zeitraum eine Arbeitserlaubnis. Sie folgte dem Ratschlag eines Bekannten und ging zur Härtefallberatung des Flüchtlingsrats. Wie bei Mijailovic kam nach wenigen Monaten die Entscheidung der Härtefallkommission: für eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.

Hohe Anerkennungsquote

Der Flüchtlingsrat hat einen von sieben Sitzen in der Berliner Härtefallkommission. Stimmberechtigt sind auch Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche, die Liga der Wohlfahrtsverbände, der Migrationsrat Berlin, die Senatsverwaltung für Wirtschaft und Frauen und der Integrationsbeauftragte des Senats. Jeder der sieben Mitglieder kann Einzelfälle ausreisepflichtiger Menschen in die Härtefallkommission einbringen, wenn er die Ausreise der Person für humanitär nicht gerechtfertigt hält und alle regulären Wege zur Aufenthaltserlaubnis bereits erschöpft sind. Entscheiden sich mindestens zwei Drittel der Kommission für einen Aufenthalt, hat der Innensenator das letzte Wort. Er kann die Empfehlung der Kommission ohne Angabe von Gründen annehmen oder ablehnen.

Gegründet wurde die Härtefallkommission 1990 auf maßgebliches Betreiben der ersten Härtefallberaterin des Flüchtlingsrates, Traudl Vorbrodt, die im Januar in Ruhestand ging. Von 1990 bis 2010 haben etwa 10.000 Flüchtlinge ein Bleiberecht über die Härtefallkommission bekommen. Allein die Beratungsstelle des Flüchtlingsrats reichte 2010 Anträge für 131 Menschen ein. 86 davon erhielten eine Aufenthaltserlaubnis. "Durchschnittlich stimmt der Innensenator zwei von drei positiven Empfehlungen der Kommission zu", erklärt Monika Kadur. Seit Januar 2011 ist die 57-Jährige die Leiterin der Härtefallberatung des Flüchtlingsrats und sitzt somit auch in der Kommission. "Zwei Drittel ist eine gute Quote", meint sie.

Die Flüchtlingsarbeit macht Kadur gern. Seitdem sie 20 Jahre alt ist, engagiert sie sich ehrenamtlich. "Diese Arbeit ist auch eine Bereicherung", erklärt sie. "Es macht mir einfach Spaß, mit anderen Menschen zu arbeiten und ihnen zu helfen." Etwa 15 Ratsuchende kommen wöchentlich in die Beratung, darunter auch ganze Familien. Arbeit jedoch hat Kadur an allen Tagen, "bis zu 35 Stunden wöchentlich", sagt sie - ehrenamtlich, neben ihrer hauptberuflichen Arbeit im Bereich der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. "Die Härtefallberatung sollte eigentlich auch honoriert werden", sagt Kadur. Generell sei die Bereitschaft zur Selbstausbeutung im Bereich der Nichtregierungsorganisationen höher als in anderen Berufen. Dies sei auch ein Problem: "Das führt zum Ausbrennen von Leuten und damit auch zum Qualitätsverlust." Und: "Das Privatleben ist eng bemessen."

In den Beratungen sei das Ziel, den Menschen viel Raum zu geben, erklärt Kadur. "Ich versuche, eine lockere Atmosphäre zu schaffen." Dabei erzähle sie auch viel über sich: "Dadurch gebe ich einen Vertrauensvorschub." Gleichzeitig lasse sie auch Revue passieren, ob ein Fall Aussicht auf Erfolg hat. "Jemanden, der keine Chance hat, sehenden Auges als Härtefall anzumelden, ist für alle Seiten frustrierend."

Mazraeh Aghaei erinnert sich an den Abend, als Kadur sie anrief, um die positive Entscheidung des Innensenators mitzuteilen. Es war Ende Februar: "Mein Mann und ich, wir haben einfach nur geschrien. Ich habe es erst geglaubt, als ich den Brief bekommen habe." Fassen könne sie es noch immer nicht, sagt sie. Sie sei Kadur unendlich dankbar. Gino Mijailovic stimmt ihr zu: "Wäre sie nicht, wäre ich womöglich heute nicht hier."

Wie bei vielen anderen ist die Aufenthaltserlaubnis von Mijailovic und Mazraeh Aghaei auf ein Jahr befristet. In dieser Zeit müssen sie Auflagen erfüllen. Mijailovic soll einen Schulabschluss nachholen und im Anschluss eine Ausbildung beginnen. Derzeit ist er auf der Suche nach einem Schulplatz. Nebenbei will er arbeiten, vielleicht als Kellner. "Ich muss sehen, ob ich das hinbekomme, Teilzeitjob und Schule", erklärt er. Auf jeden Fall wolle er hierbleiben, am liebsten auch die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Auch Mazraeh Aghaei soll eine Berufsausbildung beginnen. Nun hofft sie, so schnell wie möglich einen Ausbildungsplatz zu finden, am liebsten zur Zahntechnikerin oder Bankkauffrau. Doch sie macht sich Sorgen, ob sie binnen eines Jahres eine Arbeit findet. "Etwas Angst ist immer da."

Fördermitglieder gesucht

Während Kadur die Einzelfälle berät, kümmert sich Georg Classen um andere Vereine im Bereich der Flüchtlingsarbeit. Einmal wöchentlich beantwortet er in der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats in Friedrichshain die Fragen von Flüchtlingsberatern. Seit zehn Jahren arbeitet er für den Verein. Sein Schwerpunkt ist das Sozialrecht: "Wichtig bei der Beratung ist, dass sie qualifiziert geschieht", sagt er. Zusätzlich gebe es regelmäßige Treffen, in denen sich die Vereine untereinander vernetzen könnten.

Auch Martina Mauer arbeitet in der Geschäftsstelle, erledigt die politische und organisatorische Arbeit. "Dass es eine globale Ungerechtigkeit gibt, ist bekannt", sagt sie. Besonders merke man dies an den Lebensgeschichten der Flüchtlinge. "Dass man sie dann auch noch derart unwürdig behandelt, kann ich so nicht hinnehmen." Einer der wichtigsten Kritikpunkte des Flüchtlingsrats sei derzeit die Lagerunterbringung vieler Flüchtlinge. Mauer fordert, ihnen die Anmietung eigener Wohnungen zu erleichtern - etwa durch höhere Obergrenzen, bis zu denen das Land bei Bedarf die Miete übernimmt.

Seine Arbeit finanziert der Flüchtlingsrat unter anderem über den Europäischen Flüchtlingsfonds, Mitgliedsbeiträge und Spenden. Derzeit hätten sie 80 Mitglieder, erklärt Mauer. Nun würden sie verstärkt um Fördermitglieder werben, die zwar wenig Zeit für Flüchtlingsarbeit hätten, jedoch den Verein mit regelmäßigen Monatsbeiträgen unterstützen wollen: "Zum Jubiläum wünschen wir uns 300 neue Fördermitglieder."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.