Berliner Adventskalender (16): Die 16 Meter lange Eiergasse
Blaue Frösche, Maxim Gorki und ein Fremdenlegionär haben Platz auf Berlins kürzester Straße.
Ein Heer schwerst angetrunkener, lallend quakender Frösche hopste einst durch das Nikolaiviertel und verschaffte dem Gasthof "Zum Paddenwirt" seinen Namen. Doch die eigentliche Besonderheit des Restaurants ist nicht sein Name, sondern seine Lage in der kürzesten Straße der Stadt: Die Eiergasse im Nikolaiviertel in Mitte misst gerade mal 16 Meter. Biegt man hinter der Nikolaikirche rechts in die Gasse, kommt links ein Haus, rechts ein Haus und schon ist die Straße zu Ende und man steht auf dem Mühlendamm.
Der "Paddenwirt" ist im rechten Haus daheim, und auf der Infotafel können Touristen die Namenslegende nachlesen: In den vergangenen Jahrhunderten wurden die Waren über die Spree angeliefert, so auch das Bier für den Kneipenwirt. Dieser war eines Abends zu faul zum Entladen und ließ die Bierfässer über Nacht auf dem Kahn. Eines hatte ein Leck, der Gerstengeruch zog hunderte Frösche an. Da Frösche im 19. Jahrhundert unter Berlinern Padden hießen, hatten Wirt und Gasthof ihren Namen weg.
Den heutigen Paddenwirt-Gasthof gibt es erst seit 1986. Der Stuck an der Fassade und der Brunnen vor dem Haus sind keine Originale. Die Gasse wurde wie der Rest des Viertels während des Zweiten Weltkrieges zerbombt und erst Mitte der 80er-Jahre nach historischem Vorbild wieder aufgebaut - als DDR-Prestigeobjekt zum 750. Geburtstag Berlins.
In den oberen Geschossen der beiden Eiergassen-Häuser sind normale Mietwohnungen. "Wer hier noch einen alten DDR-Mietvertrag hat, ist auf der sicheren Seite", erzählt Steffen Liebig, der seit 1986 im Paddenwirt kocht.
Draußen vor der Tür versucht sich ein Touristenpärchen durch Drehen ihres Stadtplans zu verorten, doch in den meisten Karten ist die Straße gar nicht eingezeichnet. Dafür braucht man besondere Karten, und die gibt es gegenüber dem Paddenwirt im Antiquariat Struck. Vor 15 Jahren ist Nikolas Struck mit seinen alten Stadtplänen und wertvollen Drucken in die Gasse gezogen. Im Eingang steht eine große Radierung: Maxim Gorki und Lewis Carroll brüten konzentriert über einem Schachspiel - für 1.800 Euro kann man sich die Schriftsteller übers Sofa hängen.
Gehandelt wurde in der Eiergasse schon immer. Die Gasse gehörte zum Molkenmarkt, dem ältesten Platz Berlins, auf dem schon vor dessen erster Erwähnung im Jahr 1244 verkauft und gefeilscht wurde. Später soll in der Gasse der Händler Piel Lumpen verkauft haben. Gram bereitete ihm sein Sohn, der 1945 als Fremdenlegionär nach Indochina ging. Vom Totenbett schrieb er seinem Vater, er möge für ihn beten. Ob Piel den kurzen Weg zur Nikolaikirche nahm oder seinen Kummer beim Paddenwirt ersoff, ist nicht überliefert.
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