■ Berlinalien: Potsdamer- Platz-Wunden
Berlin (taz) – An keiner Stelle der Stadt kommen sich die Gegensätze von Repräsentationswillen und asketischen Lebensmodellen so nahe wie am Potsdamer Platz. Hier, wo sich die Berliner Volksvertreter den Preußischen Landtag für 160 Millionen Mark zum neuen Abgeordnetenhaus ausbauen ließen, der Martin-Gropius-Bau eine spektakuläre Ausstellung nach der anderen inszeniert und internationale Architektenteams den Reichstag zum Bundestag umplanen, leben seit elf Jahren etwa 60 Menschen in alten Lastwagen, bunten Bau- und Zirkuswagen. Während Daimler-Benz, Sony und Hertie sich den märkischen Sand schon aufgeteilt haben, die Abgeordneten sich noch über Tropenholztüren und je nach Gehaltsklasse unterschiedlich teuer ausgelegte Teppiche streiten, bereiten die Aussteiger sich mit Minimaletats auf ihren letzten Sommer in Berlin-Mitte vor.
Als ob die Moderne sich nicht schon mit Kränen, Planierraupen und Tiefladern angekündigt hat, vergrößern sie ihre fahrenden Wohnzimmer mit Terassen und Loggias und beplanzen das weite Ödland mit Tomatensetzlingen und Kartoffeln. Und auf den wenigen Quadratmetern, deren Eigentumsverhältnisse ungeklärt sind, drängt sich der „Lost Tribe of Mig“, eine Gruppe englischer Schrottkünstler, und hofft auf vorbeiflanierende Touristen. Sie wollen ihre aus einer NVA- Kaserne abgestaubten sowjetischen Raketen wieder nach Russland bringen, um sie dort, zu „Peace-Birds“ mutiert, auferstehen zu lassen. Dafür brauchen sie „donations“.
Zwei Welten, zwei sich beißende Konzepte für die Zukunft, nur ein paar Schritte voneinander entfernt, aber keine Neugier und keine Reibung. Das alte provinzielle und dennoch schrille Schattenleben in Berlin wird bald nur noch Kabarettstoff sein, der Geld- und Politikadel die Stadt zu einem x-beliebigen Ort verändern. Die Traditionen sind preußisch, nur an deren Tugenden wird erinnert, die alternativen Enklaven sind nur noch ein ordnungspolitisches Problem. Als neulich das Abgeordnetenhaus die Bürger zu einem Begrüßungsempfang einlud, servierten pickelbehelmte Kellner die Berliner Weiße. Den rastabezopften Schrebergärtner vom „Rollheimer Dorf“ gegenüber gelang es nicht, sich an den Pförtnern vorbei in die komfortablen Klos zu schmuggeln. Und wenn die Anzugträger auf dem Weg zur S-Bahn am Hüttendorf vorbeieilen, halten sie ihre Aktentaschen etwas fester als sonst. Anita Kugler
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