■ Berlinalien: Von illegalen Zigaretten und Vietnamesen
Meine Freundin Dora ist ein anständiger Mensch. Treu und brav kauft sie ihre Zigaretten für 4,45DM das Päckchen an der Bude. Kein Zweifel trübt ihr Verhältnis zum Steuerstaat, oder hat sie etwa zuviel Geld? Denn die gleiche Sorte kann sie stangenweise an fast jeder Ostberliner U- oder S-Bahnstation kaufen, steuerfrei, für 25 Mark. Sie darf sich nur nicht erwischen lassen.
Beispielsweise an der Jannowitzbrücke. Von morgens sechs bis abends neun, und dies bei jedem Wetter, stehen mindestens 30 Vietnamesen nebeneinander und bieten ihre Ware aus Plastiktüten an. „Camel?“ raunen sie den Vorrübergehenden zu, oder „Marlboro?“
Groß ist die Konkurrenz, und gegen Abend fallen die Preise auf 23 Mark pro Stange. Auch im Westteil der Stadt wird heftig geraunt, allerdings sind es dort polnische, rumänische oder bulgarische Händler, die die schnelle Mark mit den Glimmstegeln machen wollen. Ihre heiße Ware steckt in der Kleidung. Kommt ein Passant vorbei, reißen sie, wie Exhibitionisten, die Overalls auf und gewähren einen Blick auf das Sehenswerte. Knieknicker Golden Americans? Hier schon für 18 Mark zu haben.
Viele Raucher greifen ins fremde Innenfutter und erstehen die Billigkippen, ist ja schließlich fast ein multikultureller Akt, bestenfalls als Kavaliersdelikt zu werten. Der geprellte Staat sieht das dagegen höchst verbissen: Für die Steuereintreiber ist es ein Verbrechen, dem sie, trotz der eigens eingerichteten Sondereinheit „Arbeitsgruppe Tabak“ kaum noch beikommen: Der Zigarettenschmuggel ist perfekt organisiert, läuft trotz ständiger Razzien der Zollfahndung ungebrochen auf Hochtouren — und wird zunehmend gewalttätiger. Die netten Vietnamesen von nebenan sind, wie die meisten kleinen Dealer, Täter und Opfer zugleich. 1.000 Kleinhändler sind der Polizei in Berlin namentlich bekannt, mindestens zehnmal so hoch soll ihre tatsächliche Anzahl sein.
Viele von ihnen sind Asylbewerber, die meist illegal ins Land gekommen sind, aus Südvietnam, über die Ex-Tschechoslowakei. Wie viele Zigaretten sie pro Jahr verkaufen, weiß kein Mensch, die Dunkelziffer liegt bei 80 Prozent. Über 35 Millionen Zigaretten sind alleine in diesem Jahr beschlagnahmt worden. Ein Steuerverlust von einer halben Milliarde Mark, jammern die Waigelschen Staatskämmerer.
Die Vietnamesen an der Jannowitzbrücke sind nur das Ende einer Vertriebskette, die verdächtig an organisierte Kriminalität erinnert. Glied Nummer eins: Ein Großhändler bestellt ganze Wagenladungen für den Export bei den Zigarrettenfirmen, exportiert aber nicht nach Rußland oder Polen, sondern in die Wälder Brandenburgs. Dort warten die Zwischenhändler. Sie verkaufen ihre Ware an vietnamesische Verteilerorganisationen und diese wiederum an die Bauchladenverkäufer.
Die Händler verdienen am wenigsten, nur fünf Mark pro Stange. Doch die Masse macht's, der Schwarzmarkt ist ein lukratives Geschäft. So einträglich, daß konkurrierende Schutzgelderpresser Krieg miteinander führen. Drei Tote gab es in diesem Jahr, den letzten am 20.Juni.
Doch ganz ohne Investition ist dieses Busineß nicht zu machen. Ein Stehplatz kostet den Kleinhändler, je nach Güte und Publikumsverkehr, zwischen 2.000 und 5.000 Mark pro Monat. Das entspricht etwa der Miete, die eine Ostberliner Kioskbesitzerin an den westdeutschen Eigentümer löhnen muß. Bloß: Zahlt sie nicht, erhält sie die Kündigung. Zahlt der Vietnamese nicht, wird ihm, als erste Mahnung, ein Arm abgehackt. Die zweite Mahnung steckt dann in den Rippen: ein Langschwert. Anita Kugler
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