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■ BerlinalienVom Aufruhr der proletarischen Massen

Wohl kein Stadtteil in Berlin zehrt so von seinem Mythos wie Kreuzberg. In den achtziger Jahren fanden hier die sprichwörtlich knüppelharten Kämpfe um besetzte Häuser statt, wurde der Bezirk sogar bei einem Besuch des damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in Berlin 1987 prophylaktisch für einen Tag abgeriegelt. Zwar rollen noch immer die Touristenbusse aus Westdeutschland durch die Straßen, drücken sich Rheinländer, Schwaben, Bayern und Norddeutsche verängstigt die Nasen an den Scheiben platt und hören ehrfürchtig den Horrorstories der Reiseführer zu.

Doch der aufrührerische Bezirk, lange Zeit gehandelt wie das renitente gallische Dorf des Asterix und Obelix, gleicht mehr und mehr einer skurrilen Attrappe. Noch immer lebt in Kreuzberg der Großteil der rund 140.000 Berliner Türken, noch immer ist auch der Anteil jener guten Menschen besonders groß, die den Grünen/AL bei Wahlen fast 30 Prozent bescheren. Aber hinter den Kulissen beginnt, seitdem der Bezirk in den Blickwinkel der Hauptstadtplanungen gelangt ist, die Umstrukturierung. Langsam und auf leisen Sohlen.

Selbst die autonome Szene, selbsternannte Hüter der Kreuzberger Mischung, scheint müde geworden zu sein. Gradmesser war nicht zuletzt die diesjährige 1.-Mai-Demonstration, von der linksradikalen Szene stets mit dem Zusatz „Revolutionär“ versehen. Zerstritten ob des richtigen Weges, ja, über den Sinn des Aufzuges überhaupt, kamen diesmal weit weniger Teilnehmer als letztes Jahr. Doch wie immer, wenn politische Bewegungen den Bach hinuntergehen, üben sich ein paar Aufrechte im Endkampf. Am äußersten Rand der zersplitterten und offenkundig ratlosen Szene schlägt seit geraumer Zeit eine Gruppe namens „Klasse gegen Klasse“ wild um sich.

Mit Kübelaktionen gegen angebliche Schickeriarestaurants, Brandanschlägen gegen die Wagen von Bezirkspolitikern, Drohungen gegen Dachgeschoßbewohner, Schuh- und Modegeschäfte – kurz: gegen alle, die nicht in das „proletarische Terrain“ (O-Ton eines „Klasse gegen Klasse“-Flugblattes) passen. Selbst Türken, deren Autos nicht dem Kreuzberger Standard (verrostet, verwittert, eingebeult) entsprechen, werden angegangen. Denn auch „ausländische Geschäftemacher, die in ihrem Egoismus ihrem deutschen Gegenpart um nichts nachstehen“ (O-Ton einer „Klasse“-Broschüre), müßten als „Faktor in der Umstrukturierung“ betrachtet werden. Noch unter solcherart theoretischem Rüstzeug für den Kiez-Krieg sind die abgesonderten Flugblätter der geheimnisvollen Gruppe, über deren Stärke Staatsschutz und Verfassungsschutz nur spekulieren können.

Eine Berliner SPD-Staatssekretärin, Bewohnerin eines Kreuzberger Dachgeschosses, erhielt kürzlich ein Schreiben, das für Seelenforscher linker Abwege durchaus ein reizvolles Aufgabenfeld wäre. Man werde, so hieß es dort, erst „dann glücklich sein, wenn der letzte Kapitalist mit den Gedärmen seines letzten Handlangers aufgehangen wurde“. Und alteingesessene, selbst um die Existenz kämpfende Ladeninhabern ereilte Mitte Juli die Warnung, der „einzige Platz für Mittelklassenschmarotzer liegt zwischen Mündungsfeuer und Einschuss“.

Mit ihrem jüngsten Verbalradikalismus hat die Gruppe immerhin einen Bekanntheitsgrad weit über den Dunstkreis der Szene erreicht. Gut abgestimmt lancierten sie ihre Schreiben in das gähnende kommunale Sommerloch und erfreuten die Presse (BILD-Berlin: „Chaoten-Terror – 25.000 Mieter in Angst“) mit Horrorstories. Zumindest in der medialen Vermittlung, so scheint es, zeigt „Klasse gegen Klasse“ ein wenig Verstand. Severin Weiland

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