Berlinale-Standbild (Teil 9 und Schluss): Susanne Messmer über das Filmfest als Reise ins Ungewisse: „Andere gehen ins Kloster, wir gehen auf die Berlinale“
Ein Kreuzberger Paar Mitte fünfzig steht trotz der schneidenden Kälte vor Butter Lindner am Potsdamer Platz, sie schaufeln sich Rouladen rein. „Endlich essen“, sagt er, „ich hatte heute nur eine Scheibe Brot und Rosenkohl.“ Sie, mit vorwurfsvollem Unterton: „Du bist eben eingeschlafen.“ Er: „War ja auch voll scheiße, echt ein Elendsporno.“ Sie: „Ich fand den toll. So abgestürzte Leute sieht man viel zu selten im Film.“ Er: „Voyeurismus.“ Sie: „Aki Kaurismäki magst du doch auch, und der macht auch Arbeiterkino.“ Er: „Aber es ist eben ein Unterschied, ob man was Fiktionales über solche Leute dreht oder einen Dokumentarfilm.“
Auf die Frage, ob sich die beiden öfter abseitige Filme ansehen wie die Dokumentation „Familienleben“ von Hannah Ziegler, die eben im Panorama lief, sagen sie: „Eigentlich nur, wenn Berlinale ist.“ Urlaub nehmen und dann vier, fünf Filme täglich: Sie nutzen das Festival als eine Art willkommene Verunsicherung, als zeitweisen Kontrollverlust, „um mal auf Abwege zu geraten“, sagt er. „Andere gehen ein paar Monate ins Kloster. Wir gehen auf die Berlinale“, sagt sie.
Kurz darauf beginnt im Cinemaxx ein obskurer japanischer Film im Forum, er heißt „Our House“. Erzählt werden parallel zwei Geschichten von je zwei Frauen, allerdings in ein und demselben schönen alten Holzhaus. Nur manchmal schwappen Beweise der einen in die Welt der jeweils anderen, spüren die Bewohnerinnen die unheimliche Präsenz der anderen.
Der Film ist sympathisch, aber bleibt frustrierend rätselhaft, bis zum Schluss. Im normalen Kinoalltag wären sicher viele früher gegangen, aber auf der Berlinale bleiben fast alle sitzen. Am Ende des Films macht eine der Heldinnen ein geheimnisvolles Geschenk auf, das eine andere, eine aus dem Paralleluniversum, sich nie zu öffnen traute – und in dem Moment, als der Deckel der Schachtel zur Seite geschoben wird, ist der Film zu Ende. Eine Frau im Publikum gibt ein sehr authentisches lautes Wehklagen von sich. Gelächter.
Als die Moderatorin die Regisseurin Yui Kiyohara fragt, warum sie das getan hat, muss auch sie grinsen. „Wenn ich den Inhalt des Geschenks preisgegeben hätte, wäre der Film zu Ende gewesen. So geht er im Kopf seiner Zuschauer weiter.“ Wieder fröhlich entspanntes Kichern. Auch hier sind die Menschen offenbar der Ansicht, dass man die Berlinale vor allem als Reise ins Ungewisse nutzen sollte.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen