■ Berlinale-Anthropologie: Die Verklärung des Gewöhnlichen – eine Sternenkunde
In Wirklichkeit schaut Emma Thompson aus wie Fräulein Drescher, meine Blockflötenlehrerin, die der Krieg aus Schneidemühl ins Hessische vertrieben hatte, ja, Schneidemühl. Und Jodie Foster, „mit diesem faustgroßen Gesichtchen“ (K.), es würde dir im Feierabendgewühl der U-Bahn sogar entgehen, daß du sie übersiehst. Während John Travolta sofort lesbar ist als der klumpige Prolo aus Neukölln, stets zu einem gutmütigen Lächeln aufgelegt, sonst Stammwähler der „Republikaner“.
Und doch, wenn sie im Fleische erscheinen, verwandeln die Stars den Aggregatzustand der Welt, the transfiguration of the commonplace ist unmerklich eingetreten.
Der amerikanische Schriftsteller Walker Percy, dessen Roman „Der Kinogeher“ den entsprechenden Kadern die eklige Selbstbeschreibung „Cinéasten“ ersparte, beschreibt sie mit dem Auftritt William Holdens in der Stadt. „Holden ist die Toulouse Street abgebogen und strahlt im Gehen ein Licht aus. Eine Aura erhöhter Wirklichkeit bewegt sich mit ihm, und alle, die da hineingeraten, fühlen sie ... Ich fühle mich hingezogen zu Filmstars, aber nicht aus den üblichen Gründen. Ich habe kein Verlangen, Holden anzusprechen oder sein Autogramm zu kriegen. Es ist ihre besondere Wirklichkeit, die mich beschäftigt.“
Alle beschäftigt diese Verklärung des Gewöhnlichen, deshalb hängen sie in den vielversprechenden Bars herum, warten vorm Kinoeingang auf das Ende der Galavorstellung, suchen ein Plätzchen in den Pressekonferenzen.
Heute, als ich mit großem schwarzen Hut – „wie Citizen Kane“ (N.) – die Paris Bar betrat und mich, ängstlich wie ich bin, herrisch umschaue, fragte eilig der Kellner nach meinen Wünschen. Ich weiß nicht, ob er mich zum Nähertreten einladen oder abweisen wollte, weil ich nicht gleich herrisch fortsetzen konnte: „Ich bin hier mit Ms. Thompson verabredet, Emma Thompson, vous comprenez?“
Seltsam muß es aber sein, wenn the transfiguration of the commonplace durch den Filmstar einfach ausbleibt, weil andere Akteure zur selben Zeit anderswo Höheres bewirken.
Tante Erika ist lange tot, eine „richtige Berlinerin vom Wedding“. Jedes Jahr erzählte sie anläßlich der Berlinale genußreich dieselbe Geschichte: Wie Anfang der Fünfziger einst Gary Cooper Gast der Stadt war (die ja aufgrund der sowjetischen Bedrohung ringsum eine solche ontologische Verdichtung durch Hollywoodstars gut brauchen konnte); wie er lässig den Kurfürstendamm hinaufschlenderte, um die Einheimischen pflichtgemäß zu beglänzen – und wie sie ihm überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkten, weil all ihre Aufmerksamkeit sich anderswo versammelte, bei den Aufständischen drüben, wir schreiben den 17. Juni 1953. „Ick dachte ooch bloß“, pflegte sich Tante Erika zu amüsieren, „det is doch dieser Gary Cooper? Wat macht denn der hier?!“
Wir Jungs – erzähle ich immer wieder gern – liefen damals alle mit den schlenkernden Armen und den locker geöffneten Händen Gary Coopers durch das Städtchen. „High Noon“: so bewegt sich, hatten wir gelernt, der trainierte Schütze – „Revolverheld“ –, um jederzeit blitzartig die Waffe aus dem Halfter ziehen zu können. Dabei wollten wir wahrscheinlich gar nicht die kleine Stadt gegen Millers Bande verteidigen (so gesehen wären wir wahrscheinlich lieber selbst Millers Bande gewesen, die Angreifer): Wir wollten Filmstars sein, und das sofort. Wie wird man Filmstar? Ich erinnere mich langer Jünglingserörterungen dieser Frage.
Damals hatte die Ausdifferenzierung der Wertsphären das Starproblem noch nicht erreicht. Man konnte nur Gary Cooper oder Grace Kelly und ihresgleichen zu sein sich wünschen; Elvis Presley stand aus, von Berti Vogts oder gar Margarethe Schreinemakers zu schweigen, deren Veranstaltung nun sogar Tante Erika und ihresgleichen die Viertelstunde Starruhm, die uns bekanntlich allen zusteht, verschafft.
Die Ausdifferenzierung der Wertsphären – Kino, Sport, TV, Pop – mag den Filmstar leise entwertet haben, zur transfiguration of the commonplace bleibt er immer noch als Erster in dieser Reihe befähigt. Warum sonst jiepern die Massen nach der Anwesenheit von Emma Thompson oder Jodie Foster oder John Travolta? Michael Rutschky
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen