Berlinale-Anthropologie: Von Signifikanten und von Signifikaten
■ Robert De Niro als Zuproster und andere beglänzte Zeichen in Realpräsenz
Bekanntlich verhalten sich Signifikant und Signifikat zueinander arbiträr; keine innere Notwendigkeit verbindet Zeichen und Bezeichnetes. So wird mich nichts davon abhalten, die Berlinale dies Jahr an dieser Stelle fotografisch ausschließlich durch Fotos von der Insel Rügen zu repräsentieren.
„Und wieder strömen die Kinogeher in Massen herbei.“ Die Stadt insgesamt ist wieder erhöht und verdichtet durch das Kino, das freilich nicht bloß Kino ist – das es ja jeden Tag in der Stadt gibt –, sondern seinerseits erhöht durch Festspiele, ein Goldgrund, der sämtliche Signifikanten und Signifikate extra beglänzt.
Weil sie keine innere Notwendigkeit aneinander fesselt, können sie nach Belieben für einander einstehen. Nehmen wir Robert De Niro, von dem Babette (Filmkritikerin aus Hamburg) schon lange weiß, daß er dies Jahr der Star der Berlinale sein wird (so wie es vergangenes Jahr Courtney Love war, schon vergessen, gell? In „Larry Flint“, den ich ohne Reue verpaßt habe).
Eben hieß es noch, Robert De Niro sei verhaftet worden, in Paris, wegen Zuhälterei, nein. Weil ihm als hochkarätigem Kunden hochkarätige Zuhälter hochkarätige Nutten zugeführt hätten, sei er als Zeuge vernommen worden, wobei sich diese Einvernahme freilich so dramatisch wie eine Verhaftung gestaltete. Eine Geschichte, die uns bekannt vorkommt in ihrer Undurchsichtigkeit, nicht wahr? Robert De Niro (Signifikant) – Monica Lewinsky (Signifikat)?
Eine Geschichte, die uns nächsten Freitag im Zoo-Palast „Wag the Dog“ von Barry Levinson ungefähr nacherzählen wird, Robert De Niro als ultracleverer PR-Mann (statt als Monica Lewinsky). Wie schaut er im Augenblick überhaupt aus? Als Robert De Niro, meine ich. Man sah so etwas wallend Silberhaariges und -bärtiges auf den PR-Fotografien, aber auch Fetthaariges und Dreitagebärtiges („Jackie Brown“: zu besichtigen nächsten Dienstag), nicht zu vergessen den rundum kahlrasierten, rundum stoppeligen Abel Magwitch, der – wir befinden uns in der Paris Bar – mit dem bekannten teuflischen Grinsen sein Glas hebt und uns zuprostet, weil wir so romantisch glotzen angesichts dieses Signifikanten (Robert De Niro), der ausnahmsweise identisch ist mit seinem Signifikat (Robert De Niro).
Oder auch nicht; und die Paris Bar (Signifikat) wird reprä
sentiert durch das Borchardt (Signifikant) oder welches Lokal immer in diesem Jahr der Berlinale-Diskurs durch die Frage auszeichnet, ob es womöglich in diesem Jahr endlich die Paris Bar in ihrer eingewöhnten Bedeutung für den Berlinale-Diskurs ersetze? (Der teuflisch grinsende Zuproster ist bloß einer dieser Kulturkahlköpfe, die sich gegenwärtig allüberall finden; er heißt Konrad Brassen und genießt es, daß ihn – seit die ersten Bilder aus der neusten Version von „Great Expectations“ auftauchten – manche mit Robert De Niro verwechseln, als Signifikanten für Robert De Niro verwenden, weil sie unbedingt Robert De Niro in vivo erleben möchten, Realpräsenz.)
Was Abel Magwitch angeht, so muß ich gestehen, daß mich in dieser Hinsicht das Arbiträre des Zeichens besonders schmerzt. Denn obwohl dem großen Halliwell zuzustimmen ist, wenn er die TV-Version von 1974 „less than memorable“ nennt – im Vergleich zu David Leans kanonischer Kinoversion von 1946 –, hier sitze ich und kann nicht anders als schreiben: in meinem tiefsten Herzen weiß ich, daß Abel Magwitch (Signifikat) von niemandem anders repräsentiert wird als James Mason. (In jener TV-Version; was David Leans Film angeht, so bin ich unsicher: Alex Guinness?) Abel Magwitch ist ein Sträfling, dem der kleine Pip bei der Flucht behilflich ist; der Jüngling Pip erhält von Abel Magwitch inkognito reichlich Geldgaben, wobei Pip nächsten Samstag von Ethan Hawke dargstellt wird. 1946 war's John Mills. Den Roman hat im Jahr 1861 Charles Dickens veröffentlicht, falls Sie's noch nicht wußten.
Ich schreibe dies in der Bar des Interconti, die der Berlinale-Diskurs noch kein Jahr verdächtigte, sie möchte die Paris Bar um ihre Bedeutung für den Berlinale-Diskurs bringen. Die Bar des Interconti taugt nur für Zufallsbegegnungen mit alten Bekannten wie Babette aus Hamburg oder Konrad Brassen.
Wenn der Messias kommt, lehrt eine Legende, wird kein Ding mehr ein Gleichnis für ein anderes sein müssen. Dann wachsen Signifikant und Signifikat zusammen, der Schmerz ihrer Zufallsbegegnung verfliegt. Aber wer garantiert mir, daß der Messias Abel Magwitch unwiderruflich mit James Mason verbindet, statt mit Alec Guinness oder Robert De Niro? Michael Rutschky
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