■ Berlinale-Anthropologie: Dem Tod bei der Arbeit zusehen
Schlechtes Wetter, ein kalter Tag mit anhaltendem Regen, so daß die Nässe, bist du draußen unterwegs, unwiderstehlich die Beine hochkriecht. Dazu dieser niedrige Anthrazithimmel – jetzt bräuchte es Gemütlichkeit, Wärme, goldenes Licht ...
Das Delphi in der Kantstraße ist ein großes Kino, einer der stehengebliebenen Paläste aus dem goldenen Zeitalter. Es erfüllte mich mit Befriedigung, daß das Publikum es zu zwei Dritteln besetzte, um sich weiter über die Kinder von Golzow im Oderbruch erzählen zu lassen, die Barbara und Winfried Junge seit 1961 beobachten, ein wahrhaft anthropologisches Projekt. Gemütlichkeit und Wärme abzustrahlen war einst insofern ein Vorsatz, als es die Entstehung des neuen Menschen im Sozialismus dokumentieren sollte. Jetzt ist es ein Monumentalfilm über den Tod geworden; über den Tod der DDR, versteht sich, der freilich der Film ein überaus würdiges Fortleben ermöglicht. Ich meine den wortwörtlichen Tod, ohne Umschreibungen: Filmen heißt, dem Tod bei der Arbeit zuschauen, und dem widmen sich die Junges seit über 30 Jahren. Und dem im Kino zuzuschauen wärmt auf unvergleichliche Weise.
Willy Sommerfeld war diesmal dran, 1961 am ersten Schultag ein pfiffiges Bürschchen. Das in Schulschwierigkeiten gerät: Quälend lange müssen wir ihm zuschauen, wie er keinen vernünftigen Satz über die Prometheussage aufs Papier bringt, die im Arbeiter- und Bauernstaat das funktionale Äquivalent zur biblischen Schöpfungsgeschichte bildete.
Überhaupt ist Willy schlecht mit Worten. Der Interviewer Junge muß ihm immer wieder umfangreiche Antwortmöglichkeiten vorgeben, aus denen Willy dann kurz und knapp die seine auswählt. Bei der ersten Bekanntschaft mit dem Junge- Projekt, vor langen Jahren, in einem heißen Hamburger Sommer, hielt ich Junges Interviewtechnik für eine vorsichtige Zensurmaßnahme; er hinderte die Leute am selbständigen Reden, um ihnen Schwierigkeiten mit der hochängstlichen DDR- Obrigkeit zu ersparen.
Das mag sogar stimmen – in Willys Fall aber herrscht grundsätzlich Wortkargheit. Er ist einer dieser Landbewohner, denen großes handwerkliches Geschick – Willy verstand sich schließlich auf jede marode DDR-Landmaschine – die soziale Anerkennung sichert; ansonsten genügen Gesten und ein entwaffnendes Grinsen. Gern wüßte ich, wie im Dorf die archaische Schönheit des jungen Mannes ankam. („Ein ähnliches Ideal von Männerschönheit“, doziert meine Freundin Jutta, „wie wir sie bei jungen Türken finden“.) Ich meinte Willy von assyrischen Friesen oder attischen Vasen her zu kennen, die Lockenpracht, der Bart, die Augen, alles echt finster.
Der Mann, der dann mit seiner zweiten Frau und den Junges aufs Podium des Delphi stieg und von Ulrich Gregor, dann dem Publikum ins Gespräch gezogen wurde, zeigte immer noch das Grinsen und die Wortkargheit. Aber er war fett geworden („wie wir alle“, sagt Scheel), das Kopfhaar und der Bart grau, doch immer noch prächtig. Das Leben geht weiter und über ihn hinweg. Der Film hatte uns sein drittes Kind gezeigt, Kevin (auch vom Vater, statt nur einem Defa-Team, am ersten Schultag mit der Kamera verfolgt); die Söhne aus der ersten Ehe zeigten unverändert das Wortlos-Linkische des
Landbewohners, doch ohne Willys Charme und außerhalb des DDR-Rahmens, sie wirkten einfach verstockt.
Winfried Junge inkliniert zur Vorwurfspersönlichkeit. Schon zu DDR-Zeiten klang seine Stimme immer ein wenig so, als wolle er sich beschweren, und daran hat sich nichts geändert. Aber es gibt keine Instanz (mehr), bei der man sich beschweren könnte. Der Mensch ist das traurige Tier, das immer viel mehr wünscht, als es bekommt, und den Überschuß durch Traurigkeit wegarbeiten muß.
Der Fatalismus der Landbewohner ist darauf eingestellt; die Traurigkeit durchtränkt ihr Leben, egal, ob der staatliche Rahmen DDR oder BRD heißt. Es ist nicht der Schatten des Westens, der das Leben im Osten verdunkelt, nachdem der Schatten der SED verschwand. Es ist der Schatten des Todes.
Dankbar gewärmt verläßt der Städter das Kino, gegen den nassen Nachmittag gefeit. Michael Rutschky
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