■ Berlinale-Anthropologie: Reichshauptstadt privat (Verwirrung)
Heute läuft um 11 Uhr vormittags „Der letzte Akt“ (1954/55) von G.W. Pabst im Rahmen der Retrospektive. Es handelt sich um den letzten Akt eines Historiendramas, das man ungern als solches kennzeichnet und mit anderen Historiendramen – Wallensteins Tod, Napoleon auf St. Helena, „Nixon“ von Oliver Stone – zusammenstellt: Hitlers letzte Tage im Bunker.
Seltsamerweise sah man den Film zum Jubiläum 1995 auf keinem einzigen Fernsehkanal. Dies ist das pädagogische Land: Wirkten im Hintergrund Befürchtungen, „die Deutschen“ könnten Mitleid empfinden mit dem verzweifelten Monster? Nach der Mitgefühlswelle wegen der TV-Serie „Holocaust“ eine für H.?
Leroi, im letzten Jahr nach Berlin übergesiedelt, aber immer noch für die Zeitung im Süddeutschen schreibend, hat sich den Film wieder zu Hause angeschaut, als Videokassette, damit sein Artikel rechtzeitig erscheint. Als Amerikaner besitzt er ein deutlicheres Gefühl dafür, daß die Stadt, in der er wohnt, in der am 15. Februar 1997 um 11 Uhr vormittags im Astor, Kudamm/Ecke Fasanenstraße, Hitlers letzte Tage als Film von G.W. Pabst anzuschauen sind – als Amerikaner hat Leroi ein deutlicheres Gefühl dafür, daß dies dieselbe Stadt ist wie die Hauptstadt des Dritten Reiches, in der sich Reichskanzler H. am 30. April 1945 erschoß. „Würdest du behaupten, Washington D.C. sei als Hauptstadt von Präsident Clinton eine substantiell andere als die von Präsident Roosevelt?“
So sind es keine Mitteilungen aus einer ganz anderen Welt, was über Lerois Fernsehschirm in dem ausgebauten Dachstuhl lief – Pabsts streng an den damals so genannten Tatsachenberichten über die Ereignisse orientierte Rekonstruktion vermeidet jeden Moment von großer Oper. „Was hätte Visconti daraus gemacht! Bevor Goebbels (Joel Grey) und Frau Magda (Ingrid Thulin) die Kinder und sich selbst töten, kommt es zu einem grandiosen Schlußfick, unterlegt mit Richard Wagner ...“
Goebbels wird bei Pabst von einem Schauspieler gegeben, der ihm nur vage ähnelt, so daß er einfach identifizierbar ist, quasi aus praktischen Gründen. Hitler kann jeder männliche Schauspieler machen, sofern er die dunkle Haartolle und unter die Nase die bekannte Rotzbremse vorweist. Bei Pabst ist Albin Skoda Hitler, ein Schauspieler vom Wiener Burgtheater, und Leroi entgeht verständlicherweise, wie Skodas Burgtheaterdeutsch Hitlers Sprechweise veredelt – noch komplizierter: Weil das Burgtheaterdeutsch lange die Theatersprache war, schien sich auch der Österreicher Hitler ihrer zu bedienen ...
Albin Skoda gibt Hitler ohne Überschuß. Das Scheusal wird bald, sehr bald dran glauben müssen, „das sieht man immer gern“. Die dramatischen Hoffnungsaufschwünge – die Armee Wenck, die den Belagerungsring sprengt, der Tod Roosevelts, den das Scheusal im Tod Maria Theresias präfiguriert sehen möchte, der Friedrich II. errettete (sein Bild an der Bunkerwand) –, ich habe gern zugeschaut, weil ich wußte: Das wird nichts, Scheusal, das Spiel ist aus. So sehe ich auch immer gern Filme aus dem Zweiten Weltkrieg: Welche Rückschläge die Alliierten auch erleiden, am Ende werden sie siegen – sonst würde ich nicht hier sitzen.
Aber Leroi war leise verwirrt, als wir uns nachmittags im Einstein Unter den Linden trafen, gar nicht so weit entfernt von der Voßstraße, wo die Neue Reichskanzlei ...
„Was würde Oliver Stone anders machen?“
Albin Skoda, sage ich, sei zu wohlumrissen der Hitler, den wir uns vorstellen, „Führer und Reichskanzler“, der eine Diktatur, einen großen Krieg, den industriellen Massenmord an den Juden zu verantworten hat und sich erschießt, um nicht belangt zu werden. Was fehlt, ist „Bruder Hitler“ (Thomas Mann), der hysterische und arbeitsscheue Bohemien – der schon der Disziplin eines Tageszeitungsbetriebs nicht gewachsen wäre – der „bleiche und linkische Außenseiter, der später Reichskanzler wurde“ (Stephan Wackwitz).
„Al Pacino?“ fragt Leroi. „Mit knallblauen Haftschalen? Und Madonna als Eva Braun?“
Wir lachen. Michael Rutschky
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