piwik no script img

■ Berlinale-AnthropologieDer Scheißfilm

Lebhaft verlieh Babette dem Urteil Ausdruck, daß „Le jour et la nuit“ von Bernard-Henri Levy ein Scheißfilm sei, und die Kollegen der anderen Blätter stimmten zu. Wie Courtney Love bislang als der Star der 47. Berlinale gilt, so muß das Debüt von BHL als Scheißfilm des Jahres gelten. Da kommt Meinungsfreude auf – den Film mußte ich mir also anschauen.

Der Royal-Palast im Europa- Center wirkte in den Zeiten der Einmauerung fast bedrohlich in seinen Ausmaßen. Selbst wenn man ganz Westberlin zusammenriefe, könnte man ihn füllen? Jetzt bleiben Anfälle von Horror vacui natürlich aus – aber es verblüffte mich doch, wie viele Leute sich versammelten, um den Scheißfilm des Jahres eigenäugig zu erblicken. Entweder die Kritiken waren ihnen entgangen, oder sie hielten sich nicht dran.

Auf den Plätzen neben mir versammelten sich zwei unansehnliche Jungmänner. Jetzt stoßen zwei weitere dazu: „Ach, ihr seid bis zum Schluß geblieben? Wie ging's denn eigentlich aus?“ Sie haben also schon dem vorangegangenen Film die Chance geben können, der Scheißfilm des Jahres zu sein. Irgend etwas mit viel Geschlechtsverkehr, und zwar zwischen Menschen ebenso wie Tieren, und dann lag unter einem hochsymbolischen Kunstobjekt (?) ein Schlüssel. Ja, ein Schlüssel. „Ich bin ja sehr für Filme, die Fragen offenlassen. So lernt der Zuschauer selbständig denken...“ Gelächter. (Im Vertrauen: Alle vier Jungmänner waren auf und davon, als Alain Delon am Ende von BHLs Scheißfilm mit seiner Montgolfiere in Mexikos Himmel explodiert und das Publikum johlend applaudierte.)

Immerhin, der Anthropologe hat was gelernt. Eine tüchtige Fraktion des nichtprofessionellen Berlinale-Publikums arbeitet sich ordentlich durch das Programm hindurch. Diese Viererbande kontrollierte den Wettbewerb; ihr erster Kandidat für den Scheißfilm des Jahres muß „Secretos del corazón“ von Montxo Armendariz gewesen sein.

Auch in dem Scheißfilm von BHL viel Geschlechtsverkehr. Mittels desselben heilt die Filmschauspielerin Laure den Schriftsteller Alexandre von seinem Writer's Block, wobei der Geschlechtsverkehr als Schattenspiel inszeniert ist. Ariella Dombasle (Madame BHL) entkleidet sich geziert-verzückt, wobei ihr Alain Delon unauffällig assistiert. Andere Geschlechtsverkehre gibt's deutlicher: wenn der weißbärtig-urviechige Gutsbesitzer Cristobál mangels Erektion zum Popoklatschen übergeht oder Carlo, Salonbolschewist, am hellen Nachmittag seinen Pflichten als Hausfreund bei Madame Alexandre nachkommt, was als eine Art Glissando zwischen mindestens fünf klassischen Kamasutra-Stellungen inszeniert ist.

Babette kramt das verrottete Bildungsgut heraus, der Film spielt in Mexiko, also Malcolm Lowry, „Under the Volcano“; Kuba liegt nahe, also Ernest Hemingway: bloß litt der neben Writer's Block an Impotenz, so daß kein froschmäuliges Zuckerpüppchen ihn hätte freivögeln können. „Und dann Marguerite Duras. Einmal waren für mein Gefühl die Pferdchen von Tarquinia zu erkennen.“ Unbelesen soll man unsere Babette nicht finden.

Leroi, der auf meine dringliche Empfehlung den Scheißfilm des Jahres um 21 Uhr im Humboldt-Saal der Urania kontrollieren ging, steuerte eine freudianische Deutung bei: Ein alternder Mann (BHL) in Impotenzängsten erfindet einen alten Mann (Delon) ohne diesselben, dem aber die Arbeitsfähigkeit verlorenging, weshalb ihm durch Zuführung der jungen Frau des alternden Mannes (Madame BHL) geholfen werden kann. „Eine Art Wunderheilung. Ein vorgezogener Gegenzauber.“

Mit besonderem Genuß verweilte Leroi – wir nahmen unseren Drink nach Mitternacht in der dampfend vollen Bar am Lützowplatz – bei den homosexuellen Implikationen: Durch das Frauengeschenk setzt sich BHL zu Alain Delon in Körperkontakt, schön gebräunt durch Mexikos Sonne, aber mächtig aufgeweicht an Bauch und Hüften und insgesamt bei weitem zu oft halbnackt sichtbar. (Madame BHL stirbt dann en passant im Durcheinander einer Guerilla-Aktion gegen Cristobál, den Gutsbesitzer und Popoklatscher.)

Der Scheißfilm ist eine anthropologische Kategorie. Dankbar und begeistert wußte sich das Publikum in dem vakuösen Royal-Palast jedem einzelnen Erzählschritt und der Geschichte insgesamt weit überlegen; eine Stimmung wie in den Sechzigern bei den Edgar-Wallace-Filmen.

Und dabei war Arielle Dombasle in Eric Rohmers „Pauline am Strand“ schlechtweg umwerfend. Michael Rutschky

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen