Berlinale-Anthropologie: In die Berge fliehen
■ Entschuldigung wegen der Bildungshuberei
K. machte sich bereits lustig, „du gehst ja immer nur zu deinen Schmeckewöhlerchen“, und so war ich entschlossen, mich der Tortur von Terrence Malicks „The Thin Red Line“ zu unterziehen. Im Krieg, im Kriegsfilm, da wird das Herz noch gewogen. Aber was ich dann las, das war doch zu schrecklich. Auch die Kollegin L. schrieb „grauenhaft“ (das Erzählte betreffend, nicht die Erzählung). Muß ich mir das wirklich genau und kunstvoll zeigen lassen, was für eine Qual der Krieg ist? Erst neulich hatte ich bei der Verfilmung von Pat Barkers „Regeneration“ – als Kassette: „Im tiefsten Frieden zu Hause“ – wieder schwer mit den Tränen zu kämpfen. Nicht das sanfte Flennen, das auch der Kollege Scheel so schätzt, sondern diese Verkrampfungen, gegen die du dich automatisch wehrst. Dabei erzählt Pat Barker gar nicht direkt, sondern nur von den Erzählungen der Soldaten in einem Lazarett für Kriegsneurotiker. (Der Erste Weltkrieg ist mir eigentlich näher als der Zweite: Mein Vater war einer der begeisterten Freiwilligen und bezahlte bis an sein Ende mit Schreckensträumen.)
Also, noch ein Schmeckewöhlerchen; bekennen wir uns zum Hedonismus, der seit den Achtzigern herrscht. „Brakhage“ von Jim Shedden, lange Jahre Filmkurator der kanadischen Nationalgalerie in Ottawa (wie Ulrich Gregor hinterher auf der großen und leeren Bühne aus dem dicklichen und nervösen Mann herausfragte).
Stan Brakhage, Jahrgang 1933, gehört wie Jonas und Adolfas Mekas, Kenneth Anger und Peter Kubelka zu den Filmemachern, die in den Fünfzigern und Sechzigern „Underground“ produzierten, Experimentalfilme, die wegen der sexuellen Deutlichkeit zur Kulturrevolution beitrugen – einer der berühmtesten Filme von Brakhage zeigt die Geburt seiner Tochter: damals kühn bis zur Obszönität. – Zweitens wollten sie den Film anschlußfähig machen für die Avantgardekunst: In der Tat, erzählt Jim Shedden, gehören die Filme unterdessen zum Lehrstoff der Kunstfakultäten, ein anderes Kino als das herrschende, und das, schloß Ulrich Gregor, wollten wir auf der Berlinale auch immer zeigen, nun ja.
Junge Leute saßen in den Reihen vor mir, die mit guten Kameras immer wieder die extremen Einstellungen knipsten; abstrakte Farbmuster in Bewegung, zuckende Takes wie aus Amateurmaterial, das Brakhage zu seinem höchstpersönlichen Corpus von Home-Movies montiert hat. Filmstudenten auf Recherche? – Eigentlich war ich darauf gefaßt, daß der Jungmensch dem alten Experimentalfilmer zujubelt, „erst im Alter wird man richtig jung“. Tat er aber nicht; höfliche Aufmerksamkeit, dann auch Beifall, aber hinter mir flüsterte einer ruhig seiner Liebsten zu: „Ich finde das Mist.“
Wir sind doch beim Krieg, dem zweiten. Stan Brakhage und die anderen „Underground“-Filmer nahmen in den Fünfzigern und Sechzigern an dieser großen Kunstbewegung teil, die aus den ikonographischen Reihen der Kunstgeschichte einfach herausspringen wollte. Keine Bedeutung mehr, die uns an die katastrophale Tradition bindet – der Free Jazz gehörte ebenso zu dieser Kunst wie die Malerei von Jackson Pollock. Wenn Stan Brakhage mit dem Stichel direkt auf dem Filmband herumkratzt, knüpft er damit an die Malerei von Wols an, der durch solches Gekratze auf dem Bildungsgrund in den Vierzigern das Informel begründete.
'tschuldigung wegen dieser Bildungshuberei. Es geht noch weiter. Bei Stan Brakhage kommt etwas speziell Amerikanisches hinzu. Der Experimentalfilmer lebt in den Bergen. Wälder, Hügelzüge, seine Kinder beim Spielen, die Frau wirtschaftet im Holzhaus, das sind die Sujets seiner Filme. Der avancierte Künstler hat die Stadt, die Leute verlassen, um bei den Dingen zu sein; David Henry Thomreau heißt der amerikanische Stifter dieser Tradition, während man bei uns an Rousseau denkt. Es ist natürlich der große Krieg und die in ihm kulminierenden Bedeutsamkeiten, vor denen der amerikanische Avantgarde-Künstler in die Berge flieht, um bei den Dingen zu sein, die außerhalb der ikonographischen Reihen existieren. Ach, ich war doch wieder sehr gerührt; als ich den Fünfzigern meine Augen aufmachte, war dies als das Neueste und Aufregendste zu sehen.
Draußen immer noch der Wintersonnenschein. Beim Überqueren der Kantstraße treffe ich auf Marie Goyette, kanadische Musikerin: Sie hat das neu montierte Videomaterial aus dem Eichmannprozeß gesehen und schwankt zwischen Schrecken und Begeisterung. Links in der Fasanenstraße am Jüdischen Gemeindehaus vorbei, mit den Architekturteilen der verbrannten Synagoge. Vor dem Kempinski, ich verstehe nicht gleich, warten Autogrammjäger auf Stars. Nick Nolte und Sean Penn aus „The Thin Red Line“? Michael Rutschky
Foto: Auch vor drei Jahren wurde im Delphi über Avantgarde diskutiert.
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