Berlin verstehen : Bis es knallt
Nach viereinhalb Stunden mit der Deutschen Bahn bin ich reif fürs Sanatorium. Ich bin mit Hertha-Fans in einem Abteil eingepfercht. Die Klimaanlage ist ausgefallen, vielleicht aber schafft sie es einfach nicht mehr, die ganzen Ausdünstungen zu entsorgen, die zahlreiche Hertha-Frösche-Körper absondern. Viele kauern auf dem Boden herum und essen aus kleinen Schachteln und Tüten, auf denen „McDonald’s“ steht. Die meisten aber haben Bierdosen in der Hand, und wenn sie auf dem Boden keinen Platz mehr gefunden haben, lehnen sie sich an andere Hertha-Fans, die auch Bierdosen in der Hand halten. Zur Not lehnen sie sich auch an Reisende, die stecken geblieben sind und panisch auf den nächsten Stopp warten.
Ein Hertha-Fan hat sein Hertha-Shirt ausgezogen und zeigt die Tätowierungen. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, und wenn er grinst, kommt eine intakte Zahnleiste zum Vorschein. Er erzählt mir etwas, aber ich verstehe ihn nicht, nicke aber sicherheitshalber zustimmend mit dem Kopf. Als sich unsere Wege trennen, ruft er mir hinterher: „Ich hab heute noch Sex. Und zwar jaaanz lange.“ Dabei zeigt er seine Zähne und lacht.
An der Bushaltestelle stehe ich zusammen mit jungen Leuten, die gerade eine Polizeiausbildung machen. Einer erzählt, wem er als Erstes „die Fresse polieren“ würde und dass er in der Gosse gelandet wäre, wäre er nicht bei der Polizei gelandet. Im Bus steigen drei ältere Herren in Freizeitkleidung hinzu. Sie befinden sich gerade auf der Rolle. Sie sind Vertreter. Ein Vertreter erklärt dem anderen Vertreter, wie man Bus fährt: „Und jetzt das Ding ganz langsam in den Schlitz schieben, bis es knallt.“ Die drei lachen und einer wiederholt zur Sicherheit noch mal: „Bis es knallt.“ Draußen in der Dunkelheit rauscht ein großes Plakat vorbei mit der Aufschrift: „Berlin verstehen“. Viel Spaß, denke ich.
KLAUS BITTERMANN