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Archiv-Artikel

Berlin liegt in der Krise vorn

Dass es in Berlin eine Unterschicht gibt, sagen Experten schon seit zehn Jahren. Inzwischen hat die Stadt auch Gegenkonzepte. Senat prüft steuerliche Privilegien für benachteiligte Quartiere

von UWE RADA

Mit Verwunderung reagieren Berliner Experten auf die Diskussion über eine neue Unterschicht, die eine Studie im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ausgelöst hatte. „Dass es infolge von Abwanderung und sozialer Entmischung Quartiere gibt, in denen sich soziale Benachteiligung verfestigt, wissen wir schon seit fast zehn Jahren“, sagt der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann der taz. „Neu ist allenfalls, dass die Tatsache einer Unterschicht nun auch bei der SPD angekommen ist.“

In der am Wochenende bekanntgewordenen Studie hatte das Institut TNS Infratest 4 Prozent der Westdeutschen und 25 Prozent der Ostdeutschen einer Unterschicht ohne Aufstiegschancen zugeordnet. Genaue Zahlen für Berlin seien nicht ermittelt worden, sagte der Mitautor der Studie, Richard Hilmer, der taz. Was das „abgehängte Prekariat“ betreffe, liege die Hauptstadt aber eher in Ost- als in Westdeutschland.

Häußermann hatte bereits 1998 im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Situation der Innenstadt sowie der Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus und der Großsiedlungen untersucht. Die Prognose damals: Am düstersten sehe die Zukunft der Westberliner Innenstadtbezirke aus, wo bereits heute viele Haushalte in Armut lebten. Zunehmende Arbeitslosigkeit und Sozialhilfedichte, der Wegzug der Besserverdienenden sowie der Anstieg der Ausländerquote führten zur Herausbildung von „Gebieten mit besonderen Problemlagen“. Häußermann hatte auch Gegenmaßnahmen vorgeschlagen – etwa die die Einführung von Quartiersmanagern. Die sollten, hieß es damals, unter anderem die Menschen vor Ort zur Eigeninitiative ermuntern.

Das hat Berlin inzwischen getan, sagt Philipp Mühlberg, bei Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) verantwortlich für das Thema „Soziale Stadt“. „Inzwischen stehen uns pro Jahr 15 Millionen Euro für Quartiersmanagement zur Verfügung“, sagt Mühlberg. Die Zahl der Gebiete, in denen es Quartiers- oder Stadtteilmanagement gebe, sei von 15 auf 33 gestiegen. Gleichwohl räumt Mühlberg ein, dass man damit den Trend nicht umkehren könne. „Aber wir können das soziale Miteinander stärken und damit der Herausbildung von Parallelgesellschaften und No-go-Areas entgegentreten.“ Mühlberg nennt das „Klinsmann-Effekt“.

Im Juni hat der Senat eine „Rahmenstrategie Soziale Stadtentwicklung“ verabschiedet. Dabei hatte Stadtentwicklungssenatorin Junge-Reyer darauf hingewiesen, dass es wichtig sei, „über das Verwaltungshandeln hinausgehend ressortübergreifend und räumlich ausgerichtet zu planen“. Seither wird etwa diskutiert, wie man benachteiligte Quartiere privilegieren könne. „Dabei geht es unter anderem darum, ob es bei Ansiedlungen von Firmen Steuervergünstigungen geben kann“, erklärt Referatsleiter Mühlberg.

Letztlich aber kann auch damit die neue Armut nur verwaltet werden. Laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat geht die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland inzwischen so weit auseinander wie in Großbritannien. Und in Berlin, ergänzt Stadtsoziologe Häußermann, „ist die soziale Spreizung schon immer weiter als in anderen Großstädten Deutschlands“.

Manche Stadtpolitiker haben bereits resigniert. Auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin bekannte unlängst der grüne Stadtbaurat von Münster, Gerhard Joksch: „Der Spielraum von Stadtentwicklungspolitik erschöpft sich nahezu darin, für neue urbane Mittelschichten den entsprechenden Wohnraum zur Verfügung zu stellen.“

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