■ Berlin als kulturelle Metropole: Leise rieselt der Kalk
Ach, was waren das noch für herrliche Zeiten, als man zu den Abonnementkonzerten des Berliner Philharmonischen Orchesters unter Karajan in der Gewißheit gehen konnte, eine Art Gottesdienst zu besuchen. Der Hohepriester am Pult zelebrierte die immer gleichen klassischen Werke in einer unnachahmlichen Mischung aus Pathos, Emotion, technischer Perfektion und Zuckerguß. Während in der Kirche öde Langeweile und jedes religiösen Hochgefühls beraubte Liturgie geboten wurde, konnte man in der Philharmonie in typisch deutscher Weihestimmung schwelgen. Hier durfte man sich noch wie einst zum Sonntagsgottesdienst ausgehfein machen und die Solidarität von Gleichgesinnten genießen.
Doch, o weh!, in der Philharmonie spielt sich etwas ab wie das schreckliche Zweite Vatikanische Konzil in der katholischen Kirche. Ein neuer Chef krempelt seit einigen Jahren das Orchester und sein Programm um. Ein neuer Sound, schlank und eher intellektuell, von Plüsch und emotionalem Tauchbad befreit, das ist das neue Ideal von Herrn Abbado und seinen – ja, eben nicht mehr Mannen, sondern sogar einigen Frauen. Doch nicht nur der metaphysische Schauder ging damit verloren, auch der ewige Werkkanon wird nur noch eingerahmt von schauderhaft unbekannten bis schockierend neuen Werken dargeboten.
Einsamer Höhepunkt in dieser Entwicklung sind die letzten Abonnement-Abende von 8. bis 12. Dezember. Nein, das hatte sich so mancher anders vorgestellt: Martha Argerich und Tschaikowskis ultrabekanntes Klavierkonzert sorgten für eine ausverkaufte Halle. Aber da gab es noch ein Werk auf dem Programm, das man zwar argwöhnisch wahrgenommen hatte, dessen klangliche Realisierung aber denn doch zu viel war: Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester. Das geringste Übel dabei war noch, daß der Chef nur einer von drei Dirigenten war, bei denen es allesamt nicht auf ekstatische Blicke und wilde Gesten ankam, sondern auf exaktestes Taktschlagen. Aber diese „Musik“! 1957 komponiert und immer noch gleich scheußlich! Ein Schlüsselwerk der Moderne war angekündigt, das erste Werk rein seriellen Zuschnitts, gleichsam ein philosophisch- mathematisches Experiment in Tönen. Bitte, sollen sich das ein paar verrückte Experten anhören; aber mit uns nicht.
Und wenn etwas nicht verstanden wird, dann läßt man in Berlin die Sau raus. Ungehemmtes Schwatzen hilft über die musikalische Durststrecke hinweg. Ratlose Blicke und verhaltenes Kichern sind da noch harmlose Reaktionen. Man kann aber auch, das ist schließlich jedermanns/fraus gutes Recht, einfach aufstehen und rausgehen. Daß man dabei Musiker und den hörwilligen Teil des Publikums stören könnte, ist Nebensache. Und hat man es schließlich eine halbe Stunde durchgestanden, dann kann man zumindest kräftig buhen. Natürlich entzieht es sich der Kenntnis jener um ihren Genuß gebrachten Konzertgänger, ob die Musiker denn eine gute Interpretation geliefert haben. Aber darum geht es ja dabei auch nicht. Es geht um Entweihung des Tempels und der betroffenen Gehörgänge. Unverständlich, daß da einige Besucher vehement klatschen, ja ein verrückter Kritiker sogar bravo! ruft. Aber Perverse gibt's überall. Nur bösartige Zeitgenossen behaupten, daß diese „Musik“ ein derartiger Angriff auf die Gehörgänge sei, daß auch das Hirn mit seinen Kalkablagerungen gefährdet werde und daher als schmerzhafter Reflex der Buhruf sich entladen müsse.
Was das alles mit Berlin als kultureller Metropole zu tun haben soll? Wir lassen uns doch unsere Provinzialität nicht so einfach wegnehmen. Sollen die doch in Paris und London Stockhausen „genießen“, sollen doch andere weiter behaupten, Stockhausen sei einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Wir wünschen Wohlklang und Vergangenheit. Clemens Goldberg
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