Berkéwicz-Roman "Überlebnis": Die Heilige der Intensivstation

Ulla Berkéwicz, Chefin des Suhrkamp Verlages, hat einen Roman über den Tod geschrieben. Das Literarische, das Religiöse und die Machtpolitik in ihrem Haus sind darin untrennbar verknüpft.

Bietet Sätze von Heidegger'scher Dunkelheit auf: Ulla Berkéwicz. Bild: dpa

Der Tod ist so einfach wie unbegreiflich. Eben war da noch jemand, und jetzt ist da niemand mehr. Ein Körper erlischt. Was geschieht mit dem Leben? "Der Tod hat es mir angetan", schreibt Ulla Berkéwicz in "Überlebnis", dem Bericht vom Sterben ihres Mannes, des großen Verlegers Siegfried Unseld. In früher Kindheit war es ein sterbender Igel, der sie faszinierte. Dann zeigte ihr der Vater, Arzt in Gießen, die Leichen in der Pathologie. Und die jüdische Großmutter erklärte, wie "Nefesch, Ruach und Neschama", die man sich als verschiedene Seelenpartikel denken muss, den Körper verlassen und doch dessen Form bewahren.

Die Großmutter mit der "Urgroßvaterstimme" und märchenhaft knochigem Zeigefinger erhält in der Erzählung eine enorme Bedeutung. Sie hat Ulla Berkéwicz einst so tief beeindruckt, dass sie, die eigentlich Ulla Schmidt heißt, den Namen der Großmutter übernommen hat. Auch den kindlichen Blick von damals behielt sie bei, der die Dinge als lebendig begreift und Zwiesprache mit Tier und Gott und Welt hält. Im Zentrum der kindlichen Wahrnehmung steht immer das eigene wunderbare Ich, wie eine Sonne, um die sich alles dreht. Nur der Tod will das nicht akzeptieren.

Ulla Berkéwicz war ausgebildete Schauspielerin, als sie 1980 im Suhrkamp Verlag mit dem Roman "Josef stirbt" debütierte. Schon da erzählte sie vom Tod eines alten Mannes. "Überlebnis" schließt also einen Kreis und knüpft auch in der Covergestaltung an diesen Anfang an. 1990 heiratete sie Siegfried Unseld. Nach seinem Tod im Herbst 2002 trat sie - nach einjähriger Trauerzeit - allmählich dessen Erbe als Verlegerin an. "Überlebnis" ist nun das erste Buch, mit dem sie sich als Autorin selbst verlegt. Vielleicht ist die Kritik mit dem Buch der Verlegerin bislang pfleglicher umgegangen, als sie das der Autorin behandelt hätte. Eine vorsichtige Zurückhaltung war dabei jedenfalls nicht zu übersehen.

Dennoch ist das Selbstverlegertum keine gute Idee, schon deshalb nicht, weil ein Lektorat unter diesen Bedingungen kaum möglich scheint. Bei diesem Buch ist es aber besonders prekär: Es geht nicht nur um das Sterben Unselds, sondern viel mehr um dessen Überleben in der Konstruktion einer symbiotischen Liebe zu ihr, der Nachfolgerin, Erbin und Stellvertreterin auf Erden. Das Literarische, das Religiöse und das Machtpolitische im Hause Suhrkamp sind in diesem Text untrennbar miteinander verknüpft. Auch wenn von ihm nur als "der Mann" die Rede ist und die Ich-Erzählerin namenlos bleibt, ist der autobiografische Kontext unübersehbar. Man erfährt, dass die Erzählerin schon neun Bücher geschrieben hat. Sie zitiert auch aus "Josef stirbt". Von ihm, "dem Mann", berichtet sie, dass er begeistert Schach spielte, von Autoren umgeben war und eine Rolex trug.

Schon an dieser Vorliebe für großklotzige Armbanduhren ist Siegfried Unseld leicht zu erkennen. Berkéwicz macht aus der Uhr ein literarisches Motiv: "Ich hatte ihm meine Swatch geschenkt, weil seine Rolex stehen geblieben war. Er hat sie anbehalten. Jetzt tickt sie in seinem Grab." Das könnte ein schönes Bild sein für das Erlöschen des Lebens in der Zeit, doch Berkéwicz verdirbt es durch penetrante Wiederholung. Die Uhr, ihre Uhr, am Arm des Toten im Grab, bedeutet aber auch noch etwas anderes: Es ist, als würde sie damit die Herrschaft über ihn antreten. Sie bestimmt das Maß, nach dem nun gemessen wird. Es ist ihre Zeit, die da tickt.

Eigentlich, das begreift man bald, ist Unseld gar nicht tot, sondern nur in einer anderen Welt. Und Berkéwicz bietet Kabbala, Mystik und Sätze von Heideggerscher Extremdunkelheit auf, um den "Spalt" zwischen den Welten zu überbrücken. Das klingt zum Beispiel so: "Bevor das Sterben losging, rebellisch gegen alles Hier, das mir das ganze Da mit sich verstellte, gewiss, dass hinter allem Hier was steckt, was einzig Da ist, die Hauptsache, die nicht erfassbare, das Mysterion, wollte ich mit der großen Liebe lieben, bis der Spalt aufreißt, mit meiner Fieberseele wollt ichs, nicht mit meinen Körperteilchen."

Berkéwicz umkreist die ganz großen Dinge. Es geht um Gott und Zeit und Seele und Ewigkeit und vor allem um die Sehnsucht nach etwas Heiligem - Worte mithin, die nicht ganz verbergen können, dass es für das, was damit gemeint sein könnte, keine Sprache gibt. "Die einzige Angst, die ich jetzt noch habe, ist die, zu vergessen." Der erste Satz des Buches steht auch auf der Umschlagrückseite. Trotzdem ist er nicht ganz aufrichtig. So wortreich wie die Ich-Erzählerin den Sterbeprozess ihres Mannes schildert, so feierlich, wie sie Abschied und Trauer zelebriert, müsste sie nicht fürchten, dies jemals zu vergessen. "Vergessen ist eine Frage der Zeit", schreibt sie weiter. "Jenseits des Vergessens ist die Zeitlosigkeit. Jenseits der Zeit die Ewigkeit." An diesem raunenden, gebetshaft-pathetischen Ton hält sie sich fest. Ihre Sätze sind groß und hohl genug, dass ohne Schaden jederzeit auch das Gegenteil hineinfließen könnte. "Totsein heißt in der Zukunft sein", lautet eine Formel, die immer wieder repetiert wird, als ob sie dadurch plausibler würde. Warum heißt Totsein nicht, in der Vergangenheit sein? Das wäre auch nicht unwahrscheinlicher, böte aber der Hoffnung auf ein Weiterleben kein Asyl.

Die Intensivstation, die dem Sterben vorangeht, erscheint bei Berkéwicz als eine Art Purgatorium, das vor der Ewigkeit durchlitten werden muss. Hier wird nur "gemessen, was messbar ist", die irdische Zeit also, Puls, Atemfrequenz, Blutwerte und so weiter. Monitore, Sirenen, Urinbeutel, Blutschläuche: Im Krankenhaus wird die Hilflosigkeit gegenüber dem Tod mit großem technischem Aufwand überspielt. An diesen Stellen hätte das Buch seine Stärken entwickeln können. "Mit sieben Kabeln ans Überleben gefesselt." Oder: "Der Mann liegt roh, wie Fleisch liegt." Das sind starke, irdische Sätze wie aus einem Benn-Gedicht. Doch sie bleiben singulär und gehen unter im Wust aus metaphysischem Kitsch und selbstgerechter Wut.

Sicher lässt sich vieles vorbringen gegen die seelenlose Apparatemedizin der Neuzeit. Doch Berkéwicz inszeniert diese Welt allzu offensichtlich als Gegenpol zu der von ihr beschworenen Dimension des Heiligen und der Liebe. Die Ärzte treten als brüllende Kretins auf und marschieren im Stechschritt durch die Flure. Den Pflegedienst teilen sich ein rüpelnder "Fascho" und eine hartgesottene "Finnin". Nur eine behält im Chaos und Geschrei den Überblick: die Erzählerin als Heilige der Intensivstation. Man fragt sich allerdings: Warum haben sie und der Kranke sich überhaupt hierher verirrt?

Sie weicht nicht von der Seite "des Mannes", bleibt in den Nächten an seinem Bett, begleitet ihn in den OP und überwacht die ärztlichen Bemühungen hinter einer Glasscheibe. Auf die Idee, dass sie mit ihrer permanenten Anwesenheit die Abläufe stören könnte, kommt sie nicht. Auch wenn im Bett nebenan gestorben wird, weicht sie nicht aus dem Raum und entwickelt nicht das Gefühl, diesem fremden Sterben womöglich zu nahe zu treten. Und wenn ein neuer Patient eingewiesen und gewaschen wird, ist sie beleidigt, wenn sie das Zimmer unterdessen nicht betreten darf. Die Rücksichtslosigkeit der Ich-Erzählerin ist nicht geringer als die des Personals - nur: Sie merkt es noch nicht einmal. Solche Angehörige sind der Schrecken der Ärzteschaft.

Berkéwicz schreibt vorgeblich gegen die Verdrängung des Todes an. Warum, so fragt sie durchaus zu Recht, macht man Sterbenden immer noch vor, es ginge ums Überleben, anstatt sie auf den Tod vorzubereiten? Doch auch sie akzeptiert den Tod nicht als unausweichliches Lebensende, sondern setzt ihre komplementäre Form der Verdrängung dagegen: Steht auf der Seite der Medizin der hektische Kampf um den Körper, um Herzschlag und Atmung, so kämpft sie um die Seele und die Fortdauer einer individuellen Form. Aus ihrer narzisstischen Perspektive ist der Tod nicht nur der Skandal des Lebens, sondern eine persönliche Kränkung. "Überlebnis" ist ein Glaubensbekenntnis und das Dokument einer Ewigkeitssehnsucht, die sich in der Liebe manifestiert. Eine Liebe, die so groß ist wie die zwischen der Erzählerin und "dem Mann", kann und darf nicht enden. Deshalb darf auch der Tod nicht das letzte Wort behalten.

Richtig peinlich wird dieser eher kindliche Glaube ans unvergängliche Ich im Moment des Sterbens: "An einem Oktobertag setzt Fieber ein, im Schrank die Gläser fangen an zu klirren, es stürmt ums Haus, in meiner linken Hand geht eine Wunde auf." Eine Wunde in der Hand? Als sie am Bett des Sterbenden saß, "schraubten" sich seine Hand und ihre Hand immer wieder fest ineinander. Vermutlich ist es diese Stelle, die nun zu bluten beginnt. Die Erzählerin macht sich damit zur Stigmatisierten, zur Heiligen ihrer eigenen Kirche im Hause Unseld. Die schnöde Welt begreift nicht, was sie leidet, schon gar nicht all die zudringlichen Menschen, deren Hände sie auf der Beerdigung schütteln muss. So steht sie dann am Grab: "Die Swatch tickte, die Hand tat weh, das Grab war sehr offen, zog." Da wird vermutlich bald die Auferstehung folgen. "Überlebnis" heißt das jetzt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.