■ Beratung auf bayerisch – ein symptomatischer Konflikt: Lebensschutz als permanente Nötigung
Es gibt kein Fehlurteil, das durch interessierte Interpretation nicht noch verschlechtert werden könnte. Die bayerische Sozialbürokratie führt dies mit ihrem Erlaß vom 12. Juli 1993 beispielhaft vor – indem sie die Gründe eines Urteils strapaziert, das seinerseits das Grundgesetz per Lebensschutzinterpretation arg traktierte. Transparenz statt Anonymität – diese Beratungspraxis ist mit dem zweiten Karlsruher Abtreibungsurteil unvereinbar und soll korrigiert werden – verspricht die ertappte Landesregierung.
Der in Bayern aufgedeckte Fall ist freilich symptomatisch; der Kampf um die rechtspolitische Umsetzung des Abtreibungsurteils hat längst begonnen. Die gesamten Urteilsgründe durchzieht ein unheilbarer Widerspruch: „Rechtswidrig, aber nicht strafbar“, lautet die dilatorische Formel. Lebensschutz soll sein – einerseits gegen die Schwangere (der eine Gebärpflicht bis zu einer sonderbaren Opfergrenze auferlegt wird), und zugleich mit der Schwangeren (der man auch ohne Indikation im Rahmen der Zwangsberatung eine „Letztverantwortung“ zubilligt).
Kein Wunder, daß dieser Grundwiderspruch nunmehr auf jener Ebene virulent wird, auf die sich die unsägliche Abtreibungsdebatte mittlerweile verlagert hat: dem „Lebensschutzkonzept Beratung“. Ja, die bayerische Lesart des Urteils ist eine an Nötigung grenzende, schikanöse Einschüchterung. Wir sollten indes nicht aus dem Auge verlieren, daß die Obsession der Karlsruher Richter im Kern dahin geht, den ins Grundgesetz hineininterpretierten Lebensschutz auch gegen die Schwangere scharf zu machen. Wer die befruchtete Eizelle mit einem Grundrecht auf Leben hochrüstet, statuiert einen strukturellen, einen fortgesetzten Grundtatbestand der Nötigung. Dem entspricht der höchstrichterlich verordnete Druck auf die Beratungsstellen. Diese müssen sich bis Ende 1994 nicht nur staatlich lizensieren lassen, sondern sollen dauernder Kontrolle unterworfen werden. Auf dieser Linie liegen tendenziöse Passagen, denen zufolge es kein Recht geben dürfe, die Bescheinigung bereits nach dem ersten Termin zu verlangen, sondern erst dann, wenn die Beratungsstelle ihre sanfte Überzeugungsarbeit „als abgeschlossen ansieht“.
Machen wir uns nichts vor: Ein Urteil, dessen tragende Gründe von einem unheilbaren Widerspruch durchzogen sind, das im Grunde also nicht ernstgenommen werden kann, ein Urteil, das die Lebenswirklichkeit von Frauen und Kindern in dieser Gesellschaft aus selbstverschuldeter ideologischer Borniertheit verfehlt, ein solches Urteil muß unter Umständen gegen seine bayerische Lesart verteidigt werden. Es muß aber auch und vor allem gegen sich selbst in Schutz genommen werden. Das dient der Verfassung, der Emanzipation, ja letztlich auch irgendwie dem Lebensschutz. Horst Meier
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