sozialkunde : Beobachterbeobachtungen
Letztlich ist der Soziologe ein Ökologe: Er beobachtet Menschen und Institutionen, System und Netzwerke in ihren Nischen
Die moderne Gesellschaft, wie jede Gesellschaft zuvor, beobachtet sich selbst. Massenmedien und Protestbewegungen, Künstler und Priester, Politiker und Unternehmer, Wissenschaftler und Ärzte tun den halben Tag nichts anderes, als sich einen Reim auf ihre Verhältnisse zu machen und ein Bild zu entwickeln, in welcher Form auch immer, mit was für einer Gesellschaft sie es zu tun haben.
Der Unterschied der modernen Gesellschaft zur Gesellschaft zuvor liegt möglicherweise nur darin, dass die moderne Gesellschaft radikal auf das Prinzip der Beobachtung zweiter Ordnung setzt. Sie beobachtet nicht einfach Könige und Bauern, Priester und Kaufleute, Männer, Frauen und Kinder, um ihnen kategorial ihren Ort zuzuweisen und ihre Rollen zuzuschreiben. Sondern sie beobachtet Beobachter. Politiker versuchen herauszufinden, wie andere Politiker ihre Wähler erreichen. Unternehmer schauen sich an, womit andere Unternehmer Erfolg haben. Schüler orientieren sich an Schülern, um mit Lehrern zurande zu kommen. Liebhaber kopieren, mit leichten Abweichungen, andere Liebhaber, um Eroberungen zu machen. Jeder schaut sich die Welt mit den Augen eines anderen an. Wer genauer hinschaut, wird einsam, aber auch das wird schnell zum Trend.
Die Folge dieses Prinzips der Beobachtung zweiter Ordnung ist eine hochgradig dynamische Stabilisierung. Man orientiert sich nicht an dem, was man ist, sondern an dem, was andere machen, und variiert es leicht, um eigenes Profil zu gewinnen.
In der Kolumne am 15. März hatte ich bereits gefragt, worin die Rolle der Soziologie in der Gesellschaft besteht, wenn bereits alle anderen mit Beobachtungen beschäftigt sind und dies auch dank des Prinzips der Beobachtung zweiter Ordnung jeweils auf eine weitgehend pragmatische und ebenso anpassungsfähige wie entwicklungsfähige Weise geschieht. Wozu braucht man einen systematisch auf Beobachtung und Beschreibung festgelegten Beobachter, wenn bereits jeder (fast) jeden beobachtet, um sich in dieser Gesellschaft zu orientieren? Gut, man könnte sagen, dass die meisten Beobachter damit beschäftigt sind, so zu tun, als würden sie die anderen nicht zur Kenntnis nehmen. Blitzschnell werden die jeweils neuesten Einsichten aus der Beobachtung zweiter Ordnung dissimuliert, um anschließend so tun zu können, als wäre man nach wie vor nichts anderes als identisch mit sich selbst. Im Unterschied dazu stellt die Soziologie ihre Beobachtungen zur Verfügung – wenn auch meist nur, um sich sagen zu lassen, dass sie wieder einmal herausgefunden hat, was andere schon wissen.
Nein, die Aufgabe der Soziologie besteht offensichtlich darin, erstens auf dieses eigenartige Prinzip der Beobachtung zweiter Ordnung hinzuweisen und zweitens vor Beobachtungen zu warnen. Beobachtungen orientieren nicht nur, sie können auch gefährden und verletzen. Wir alle glauben, nichts sei uns wichtiger, als Anerkennung, mit Axel Honneth, und Aufmerksamkeit, mit Georg Franck, zu erringen und zu erregen. Aber das Problem besteht ja darin, dass wir nicht nur darauf hin beobachtet werden, was wir zu präsentieren versuchen, sondern vor allem darauf hin, welche Tricks wir dabei anwenden und was wir währenddessen zu verbergen trachten. Das eben ist die Pointe der Beobachtung von Beobachtern als Beobachtern: Man stößt auf ihr wackliges, ihr prekäres, ihr illusionäres Verhältnis zu Welt. Es bedarf einer eigenen Anstrengung, Würdigung und Wertschätzung, wie man heute zu sagen pflegt, um Beobachter trotz und wegen der Art und Weise, wie sie sich ihre Welt zurechtlegen, anzuerkennen. Darauf zielt ja auch das Argument von Axel Honneth.
Fast ist man damit auch schon bei der Soziologie. Das zentrale Argument der Soziologie lautet, dass die Entlarvung durch Ideologiekritik und Psychoanalyse nicht deswegen, weil sie jederzeit möglich ist, auch schon Recht hat. Die Soziologie glaubt nicht an eine Aufklärung, mit deren Abschluss wir alle in transparenten, vernünftigen und irgendwie menschlichen Verhältnissen leben. Sondern sie glaubt, mit der Formulierung von Niklas Luhmann, an eine „soziologische Aufklärung“, deren wichtigste Botschaft darin besteht, dass Beobachter angesichts der Komplexität von Welt und Gesellschaft nicht darum herumkommen, diese Komplexität zu reduzieren und sich ihren höchst eigenwilligen und begrenzten Reim auf die Verhältnisse zu machen.
Letztlich ist der Soziologe, wenn er sich nicht zum Moralisten aufschwingt, immer schon ein Ökologe: Er beobachtet Menschen und Institutionen, Systeme und Netzwerke in ihren Nischen, bewundert, wie sie sich ihre Welt konstruieren, und weist darauf hin, wie prekär die Balance ist, die jeder Beobachter für sich findet. Ihm ist klar, dass es keine übergreifende Ordnung, keinen einheitlichen Weltsinn, keine Vernunft und keine Unvernunft des Ganzen gibt, auf die man die vielen Beobachter dieser Welt nur aufmerksam machen müsste, damit sie endlich so leben, wie es Menschen angemessen ist. Er weiß, dass menschliches ebenso wie soziales Leben explorativ ist, ohne etwas anderes als die eigenen Funde als Sinn der Welt voraussetzen zu können.
DIRK BAECKER
Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag eines Monats