Benjamin Moldenhauer Popmusik und Eigensinn: Suggerierte Tiefe
Gängige Ausgangsthese: Pop ist schöne Oberfläche, Rock existenzielle Erfahrung. Pop ist Theater, Rock verspricht Authentizität. Dann der Verdacht: stimmt nicht. Weil man weiß, dass der Eindruck des Existenziellen immer Resultat eines Konstruktionsaktes ist.
Tiefe liegt nicht vor als unmittelbarer Ausdruck der Künstlerseele, sondern muss hergestellt werden. Auch wenn die Musik versucht zu klingen, als wäre sie von ganz weit unten nach oben emporgestiegen, ist sie verbunden mit der Einhaltung von Genreregeln. Und wenn sich Indierock und die dunkleren Spielarten des Folk verbinden, wird es besonders tiefschürfend.
Gut ist, wenn man künstlerische Konstruktionsarbeit würdigen kann, ohne ihr auf den Leim zu gehen – und trotzdem noch affektiv mitkriegt, um was es geht. Wie das geht mit der Suggestion von Tiefe im Pop (Pop im weitesten, beides umfassenden Sinne) kann man am aktuellen Album von Jayle Jayle, der Band um den Young-Widows-Sänger Evan Patterson, studieren.
Alles ist da: schwarze Anzüge, Bärte in verschiedenen Formen, die sonore Stimme, mannhaft zu ertragende Geworfenheit; schon der Albumtitel zeigt es an: „No Trail and Other Unholy Paths“. Nichts kommt aus dem Nichts: Die Musik von Jayle Jayle setzt sich zusammen aus anderer Musik, vor allem Woven Hand und die Angels of Light klingen durch, hin und wieder auch ein bisschen Nick Cave, und der späte Johnny Cash schwebt über allem, auch wenn es nicht so klingt.
Es könnte in den Texten auf „No Trail and Other Unholy Paths“ auch um Schreibtischstühle oder Leasing-Raten gehen. So lange all das in einer Weise vorgetragen wird, die immer klar macht, dass es durchweg ums Ganze geht, macht es keinen Unterschied, zumindest für den von Haus aus deutschsprachigen Hörer nicht.
All das tut der Freude an der Tiefensuggestion keinen Abbruch, und die ist wichtig, als Ausgleich in der durchverwalteten Welt. Man selbst bekommt solche Gefühlswelten ja nicht mehr ohne Weiteres zustande, da ist es gut, wenn die Kunst einem das abnimmt und etwas vorgibt, auf das man sich einschwingen kann. Wenn Klang und Hörerpsyche ineinandergreifen, erlebt man sich vor der Bühne als empfindsames, komplexes Subjekt, ganz bei sich und befreit von allen Rollen. Am Montag dann wieder normal Fabrik, Seminar, Büro.
Jaye Jayle X The cool adorers, Sa., 20. 4., Zollkantine, 20 Uhr
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