: Belgiens König sucht einen Premier
■ Der amtierende Ministerpräsident Wilfried Martens reicht nach der Wahlniederlage seinen Rücktritt ein / Knappe Mehrheit der bisherigen Regierungsparteien / Der flämische Sozialist Willy Claes könnte aufgrund seiner Zweisprachigkeit belgischer Ministerpräsident werden
Brüssel (afp) - Der belgische Ministerpräsident Wilfried Martens hat am Montag die Konsequenz aus den Parlamentswahlen vom Vortag gezogen und den Rücktritt seines Kabinetts eingereicht. König Baudouin nahm das Rücktrittsgesuch an und beauftragte Martens mit der Führung der laufenden Amtsgeschäfte. Die von dem flämischen Christsozialen Martens seit 1981 geführte Regierungskoalition verfügt rechnerisch nur noch über eine Mehrheit von vier Sitzen im Abgeordnetenhaus (110 von 212 Mandaten). Eine auf diese hauchdünne Mehrheit gestützte Regierung wurde von den inländischen Kommentatoren am Montag einhellig als politisch instabil und moralisch unvertretbar bewertet. Die Sozialisten, zum ersten Mal seit 1936 wieder stärkste Partei im Königreich, könnten gestützt auf ihre 72 flämischen und wallonischen Abgeordneten jedoch nur dann an die Macht kommen, wenn sie mit einer der beiden großen Gruppierungen des bisherigen Regierungslagers ein Bündnis eingehen. Da die konservativen Liberalen (PRL im frankophonen Wallonien und PVV im niederländischsprachigen Flandern, 48 Mandate) eine solche Koalition schon im Vorfeld abgelehnt hatten, schien am Montag nur ein Bündnis zwischen den Sozialisten (PS und SP) sowie den Christlichsozialen (PSC und CVP, 62 Mandate) einen Ausweg aus der Krise zu bieten. Sie könnten sich auf 134 Abgeordnete stützen. Damit eine solche Koalition lebensfähig sein kann, müßten beide Strömungen beträchtliche Differenzen aus dem Weg räumen, die sie in Wirtschafts–, Gesellschafts– und Verfassungsfragen trennen. Arbeitslosigkeit, Schwangerschaftsabbruch, der Status der zweisprachigen Region Brüssel und nicht zuletzt die angestrebte Staatsreform sind Problemfelder, auf denen Sozialisten und Christlichsoziale bisher unterschiedliche Lösungen anstrebten. König Baudouin nahm am Montag die Beratungen auf. Traditionell wählt das belgische Staatsoberhaupt, für Nominierung und Abberufung der Minister zuständig, zuerst einen Politiker der stärksten politischen Formation, um die Regierungsbildung einzuleiten. Die Sozialisten haben ihren Anspruch denn auch bereits geltend gemacht. Der Führer der flämischen Sozialisten, Willy Claes, bekräftigte, „daß die Sozialisten ihren Machtanspruch stellen müssen“. Viele Beobachter sehen in ihm den neuen belgischen Ministerpräsidenten, da dieser nach ungeschriebenem Gesetz zweisprachig sein muß. Guy Spitaels, der strahlende Sieger der Wahlen vom Sonntag, spricht nur Französisch.
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