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BelgienHauptstadt ohne Land

Belgien findet seit über 100 Tagen keine neue Regierung. Folgt nun die Teilung des Landes? Und was würde dann aus Brüssel, dem Subventionsparadies aller EU-Bürger?

Alles geht den Bach runter - auch Brüssels Wahrzeichen Manneken Pis uriniert nicht mehr, wie es soll. Bild: ap

BRÜSSEL taz Ausgerechnet im Schwimmbad wird mir klar, dass die Sache für uns alle übel ausgehen kann. Ich drehe meine Runden in der Königlichen Belgischen Militärakademie im Europaviertel von Brüssel, direkt bei mir um die Ecke. Während die Landesverteidiger ihre wohlverdiente Mittagspause genießen, steht das Schwimmbecken gegen geringes Entgelt der Bevölkerung offen. Eines der unzähligen Privilegien, die den Bürgern in einer Stadt geboten werden, in der sich die flämische, die wallonische, die städtische und die föderale Regierung täglich mühen, ihren Daseinszweck zu beweisen.

Mehr als hundert Tage sind seit den letzten belgischen Wahlen vergangen, und die politischen Gegensätze zwischen den Wahlsiegern im niederländisch sprechenden Flandern und in der französisch sprechenden Wallonie scheinen unüberbrückbar. Die Flamen wollen, kurz gesagt, noch unabhängiger als bisher über die Politik im eigenen Landesteil bestimmen und möglichst wenig für die arme Verwandtschaft im Süden bezahlen.

Die Wallonen rümpfen zwar noch immer die Nase über die einst als arme Bauerntölpel verachteten, inzwischen zu Geld gekommenen Flamen. Doch ohne die ungeliebten Landsleute wären sie finanziell aufgeschmissen und außenpolitisch zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Das würde den Frankophonen, die sich gelegentlich in Leopolds Kolonialreich zurückträumen und bis heute gern Weltpolizei spielen, überhaupt nicht schmecken.

Vor sechs Jahren war uns Brüsselern der Zugang zu unserem Luxusschwimmbad ein paar Monate lang versperrt, weil Gäste in der Militärhochschule untergebracht waren, die einen höheren Sicherheitsstandard erforderlich machten. Es waren katholische Nonnen aus Ruanda, die sich vor einem belgischen Gericht verantworten mussten. Die Anklage lautete auf Beihilfe zum Völkermord. Sie wurden zu zwölf und fünfzehn Jahren Haft verurteilt.

Der Staatsanwalt stützte seine Anklage auf ein belgisches Gesetz, nach dem auch Ausländer für im Ausland begangene Straftaten verurteilt werden können, wenn es sich um Verbrechen gegen das Völkerrecht handelt. Deshalb bekamen im Lauf der Jahre mehrere Prominente in Belgien ein Verfahren an den Hals, darunter Ariel Sharon, George W. Bush, Tony Blair und der frühere Befehlshaber der US-Truppen im Irak, General Tommy Franks. Erst als die USA damit drohte, das Nato-Hauptquartier in ein anderes Land zu verlegen, da amerikanische Politiker und Militärs in Belgien mit ihrer Verhaftung rechnen müssten, änderte das Königreich sein größenwahnsinniges, aber überaus sympathisches Gesetz.

Die Anklage gegen Scharon hatte Belgiens Beziehungen zu Israel zeitweise so stark belastet, dass der flämische Kultusminister eine lange geplante Reise nach Tel Aviv absagen musste. Kein Wunder, dass immer mehr Flamen davon träumen, auch außenpolitisch eigene Wege zu gehen. Mit der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik würde der letzte Politikbereich wegfallen, der ausschließlich auf der föderalen Ebene angesiedelt ist. Dann bliebe vom Königreich Belgien nur noch der König - und die Staatlichen Eisenbahnen SNCB.

Doch auch sie hat Flandern längst im Visier. Die flämischen Parteien wollen, dass die Regionen im Vorstand der SNCB ein Mitspracherecht erhalten. Die offizielle Begründung lautet, das Netz müsse modernisiert werden, um den Warentransport von den Seehäfen Antwerpen, Gent und Zeebrügge ins flämische Hinterland zu beschleunigen. Davon hänge schließlich die Prosperität der flämischen Unternehmen ab. Wallonische Politiker kontern, die flämische Regierung lasse Zubringerstraßen nach Brüssel mit Absicht verfallen, um die Wallonie von der belgischen Kapitale abzuschneiden. Denn Brüssel liegt, wie einst Westberlin, als autonome, mehrheitlich französisch sprechende Enklave im flämischen Feindesland.

Angesichts der bangen Frage, was aus unserer Brüsseler Insel der Seligen werden soll, wenn sich Flamen und Wallonen nicht doch noch irgendwie zusammenraufen, müssen weltpolitische Dimensionen verblassen. Denn hier steht ein bunter Mikrokosmos auf dem Spiel, in dem es sich im Windschatten konkurrierender Interessen und sich überschneidender Kompetenzen sehr komfortabel leben lässt. Der Vergleich mit Westberlin passt gar nicht schlecht: Den Subventionstopf füllt die Europäische Gemeinschaft mit Büromieten, Zuschüssen und überbezahlten Jobs. Für das kulturelle Leben sorgt ein munterer Kulturkampf, in dem Wallonen, Flamen und die Region Brüssel um die Ehre streiten, das experimentierfreudigste Theater oder das architektonisch gelungenste Museum beigesteuert zu haben.

Zugegeben, die Königliche Militärakademie würde mir fehlen. Die Spielzeugeisenbahn, deren Schaffner die schönsten betressten Mützen tragen, deren sogenannte Intercitys in jedem Dorf anhalten, und die ich als Journalist natürlich gratis benutze, würde ich schmerzlich vermissen. Doch am meisten treibt mich die Frage um, was im schlimmsten denkbaren Fall mit Brüssel passiert.

Fünf Szenarien haben meine belgischen Kollegen für die Stadt entworfen, die gleichzeitig Europas und Belgiens Kapitale, Flanderns Hauptstadt und eine eigenständige Region ist. Die Wallonen haben sich das 60 Kilometer südlich gelegene Namur als Sitz der Regionalregierung gewählt und sich damit selbst ins Abseits katapultiert. Ihre Chancen, Brüssel als Hauptstadt der Wallonie zu reklamieren, sind ungefähr so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Hamas Jerusalem eines Tages zu ihrem Hauptquartier machen kann.

Bleiben also in Wahrheit nur vier Optionen. Brüssel liegt in Flandern und ist bereits Sitz der flämischen Regionalregierung. Doch nur knapp zehn Prozent der Bevölkerung sind Flamen, viele Alteingesessene und die meisten Zuwanderer aus dem Kongo, Nordafrika und der Eurokratie sprechen kein flämisch. So verwundert es nicht, dass nicht einmal flämische Politiker Anspruch darauf erheben, den Brüsseler Multikultikessel nach Flandern einzugemeinden.

Als unabhängiger Staat oder unabhängige Agglomeration, so die Meinung der meisten Beobachter, wäre Brüssel ökonomisch nicht lebensfähig. Es könnte sein Stadtgebiet auch nicht ins Hinterland hinein vergrößern, da Flandern für diesen Zweck mit Sicherheit kein Zentimeterchen Land abtreten würde. Bleibt nur Variante Nummer fünf: Brüssel wird die erste und bislang einzige städtische Region, die direkt und unmittelbar der Europäischen Union angehört. Der Vergleich mit Luxemburg zieht nicht, denn seine 300.000 Einwohner behaupten hartnäckig, eine eigenständige Nation zu sein und führen den Großherzog zum Beweis an.

Wir Brüsseler könnten unseren Stadtstaat mit dem belgischen Exkönig aufpeppen. Er ist zwar der ärmste Monarch Europas, doch sein Stadtschloss, die königlichen Gewächshäuser und die blonde Prinzessin Mathilde wären zweifellos gut fürs Image. Andere einstmals belgische Symbole wie das Atomium oder das Manneken Pis würden wegen ihres Standorts automatisch zur Brüsseler Erbmasse gehören.

Das Manneken ist von der ganzen politischen Aufregung nicht unberührt geblieben. Es habe, wie eine Nachrichtenagentur berichtet, einen ganzen Tag lang nur wenige Tröpfchen unter sich gelassen, statt in hohem Bogen zu urinieren, wie es sich gehört. "Probleme beim Urinieren?", stand auf einem Schild zu lesen, das die belgische Urologenvereinigung daneben aufgestellt hatte. "Lassen Sie rechtzeitig Ihre Prostata untersuchen!"

Doch Belgiens ansteckende Krankheit heißt Zerfall. Die daraus entstehenden Probleme wären von enormer Brisanz für Europas weitere Entwicklung. Würde Brüssel im Ministerrat einen eigenen Sitz und Stimmrecht erhalten und damit das sorgsam austarierte Gleichgewicht stören? Müssten die Europäischen Verträge neu verhandelt, die Gemeinschaft vielleicht gar neu gegründet werden? Eine wahre Lawine könnte folgen. Katalanen, Schotten, Basken, Bretonen, die alle von ihrer nationalen Zentralregierung die Nase voll haben, könnten es Brüssel gleichtun wollen und aus Europa ein Gewusel von Zwergstaaten machen.

Dann doch lieber die Variante, die ein belgischer Journalist sich ausgedacht hat: Er bot "ein Königreich in drei Teilen mit dem einzigen Nachteil von 300 Milliarden Euro Staatsschulden" bei Ebay feil - Mindestgebot: ein Euro. Ein Kauf als Ganzes sei nicht ratsam, warnte die Produktbeschreibung. Als nach 26 Geboten der Preis auf zehn Millionen Euro geklettert war, stoppte Ebay die Auktion. Dabei wäre das vielleicht die beste Lösung gewesen.

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