Belgien ohne Regierung: "Der König kann abdanken"
Vor vier Monaten wurde in Belgien gewählt und es gibt keine neue Regierung. Flämischen Parteien fordern mehr Autonomie, viele Flamen würden sich gern von der Wallonie lossagen.
Wer will, kann sich von ihm knuddeln lassen. Ruben Goethals wedelt mit einem Pappschild, auf das er etwas ungelenk "Free Hugs", etwa: "Gratis-Umarmungen", gemalt hat. Es ist der Tag des Friedens, und der 32-jährige Ingenieur hat sich frei genommen, um auf dem Marktplatz von Gent kostenlose Zärtlichkeiten auszuteilen.
Goethals sieht gutmütig aus. Das ändert sich, wenn man auf die Wallonen im Süden Belgiens zu sprechen kommt. Dann wird der Flame zurückhaltend. Dieser Mann kämpft für die Verständigung auf der Welt, aber nicht unbedingt im eigenen Land. "Es geht zu viel Geld aus Flandern nach Brüssel und in die Wallonie", klagt er zwischen zwei kräftigen Umarmungen. Darum würde er auf ein geeintes Belgien gern verzichten. "Der König kann ruhig abdanken!"
In Belgien gibt es nicht einfach Christdemokraten, Sozialisten und Grüne, vielmehr existiert jede Partei in zweifacher Ausfertigung: als flämische und als wallonische.
Nach den Wahlen vom 10. Juni verfügen die Christdemokraten und Liberalen über eine Mehrheit im belgischen Parlament. Doch die Regierungsbildung ist schwierig, weil die flämischen Christdemokraten ihren Wählern mehr Autonomie für Flandern versprochen haben. So möchten sie die Verantwortung für die Sozialversicherung den Regionen übertragen. Dagegen sträuben sich die wallonischen Liberalen und Christdemokraten. In der vorigen Woche wurde eine erste Einigung erzielt, allerdings in der Einwanderungspolitik.
Bis auf weiteres amtiert die alte Regierung unter Guy Verhofstadt, die im Juni abgewählt wurde. Schon jetzt genießen die Regionen weitgehende Autonomierechte. Sie sind unter anderem für Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Energiepolitik zuständig und auch dazu befugt, Außenhandelsverträge zu schließen. UH
Er stellt es sich vor wie bei den Tschechen und Slowaken: Die Flamen im belgischen Norden, die Niederländisch sprechen, trennen sich einfach von den frankophonen Wallonen im Süden - und hinterher treten beide getrennt in die EU ein. Allerdings ist Goethals nicht besonders optimistisch, dass dieses Modell bald Wirklichkeit wird. "Mimimi" ahmt er ein Mäuschen nach und krümmt den Rücken. "Unsere flämischen Politiker sind einfach zu ängstlich." Noch zehn Jahre mindestens, so schätzt er, könne es dauern, bis Belgien endlich zerfällt.
Viele auswärtige Beobachter sehen das bereits jetzt gekommen. Die Neue Zürcher Zeitung etwa spekuliert, dass sich Flandern demnächst an die Niederlande anschließen könnte. Wahr ist jedenfalls, dass es seit der Parlamentswahl am 10. Juni noch keine neue Regierung gibt.
Wie Ruben Goethals glauben viele Flamen, dass die Unterstützung für die Wallonie zu teuer wird. Während im Norden fast Vollbeschäftigung herrscht, sind im Süden knapp 15 Prozent arbeitslos. Dabei war die Wallonie einst reicher, als mit Kohle und Stahl noch Geld zu verdienen war. Doch nun ist die flämische Wirtschaft längst vorbeigezogen, die von Logistik bis Software vieles bietet, was in der Welt gefragt ist. Die Machtverhältnisse in Belgien haben sich verkehrt.
Entsprechend hoch fällt in Flandern die Unterstützung für den separatistischen Vlaams Belang aus, der inzwischen die größte Fraktion im Regionalparlament stellt. Wegen ihrer Fremdenfeindlichkeit wird die Partei allseits gemieden; ein "Cordon Sanitaire" soll verhindern, dass sie jemals in eine Regierungskoalition gelangt. Doch das hat den Einfluss der Nationalisten kaum gemindert.
Wer verstehen will, was Flamen wie Ruben Goethals bewegt, ist bei Johan Deckmyn richtig. Der Abgeordnete des Vlaams Belang sammelt alle Mythen, Anekdoten und realen Ärgernisse, die ihm geeignet scheinen, seine Lieblingsthese zu belegen: "Wir Flamen werden von den Frankophonen ständig bestohlen."
Da ist etwa die Geschichte mit den Radarfallen: In Flandern hätten sie 1.400 aufgestellt, in der Wallonie aber nur ganze 15. Weil jedoch die Bußgelder in den nationalen Steuertopf fließen, würden nun die flämischen Autofahrer den Süden Belgiens subventionieren. Oder die Geschichte vom "großen Stimmenklau": Im belgischen Nationalparlament hätte der Vlaams Belang mit 800.000 Stimmen nur 17 Sitze bekommen, während es die wallonischen Sozialisten mit 625.000 Stimmen auf 20 Sitze gebracht hätten. "Ist das etwa Demokratie?", fragt Deckmyn und schafft es, empört und spitzbübisch zugleich auszusehen.
Deckmyn ist kein Eiferer, er spricht nicht im Stakkato-Stil. Er fühlt sich als einer aus der Mitte der flämischen Gesellschaft. Lässig, mit Jeans und kariertem Hemd, sieht er aus wie ein erfolgreicher Akademiker. Der 39-Jährige ist selbstständiger Informatiker, zusammen mit drei Partnern gehört ihm eine Firma, und nebenher importiert er badische Weine.
Inzwischen ist Deckmyn bei einer Anekdote über das Königshaus angekommen, das zu Hause Französisch spricht und dessen Flämischkenntnisse umstritten sind. So erklärte Kronprinz Philippe bei der Geburt seiner Tochter, es sei ein "vrouwtje". Doch das bedeutet eben nicht Mädchen, sondern Weibchen. Nicht alle, aber viele Flamen kränkt es, dass sich die königliche Familie nicht um ihre Sprache bemüht. Zumal nebenan in den Niederlanden Kronprinzessin Máxima vorgemacht hat, dass man auch als geborene Argentinierin das Niederländische innerhalb kurzer Zeit akzentfrei lernen kann. Die sprachliche Ignoranz der königlichen Familie erinnert viele Flamen daran, dass Flämisch bis in die Sechzigerjahre als derbe Bauernsprache galt.
Plötzlich springt Deckmyn auf und verlässt kurz den kahlen Versammlungsraum seiner Fraktion. Unbedingt muss er eine Titelseite von Het laatste Nieuws aus seinem Büro holen. Das knallbunte Boulevardblatt hat mehr als eine Million Leser, was enorm ist bei nur sechs Millionen Flamen. Und da prangt es in großen Lettern: 2,50 Euro musste im Jahr 2005 jeder Flame jeden Tag an die Wallonen zahlen. Insgesamt sind es 5,6 Milliarden Euro, die Sozialversicherungen gar nicht eingerechnet. Die Studie stammt von der Universität Namur, was Deckmyn besonders begeistert. Denn Namur liegt in der Wallonie, daher ist die Universität unverdächtig, vorsätzlich Zahlen zu produzieren, die die Separatisten nutzen können. Wieder einmal sieht Deckmyn seine These bestätigt, dass den Flamen von den Wallonen "das ganze Portemonnaie geklaut" werde.
Und was soll aus Brüssel werden? Der Redefluss von Deckmyn stoppt abrupt. "Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage." Denn Brüssel liegt zwar in Flandern, trotzdem wohnen in Brüssel kaum noch Belgier, die sich selbst als Flamen verstehen. Bei den vergangenen Wahlen erhielten die flämischen Parteien nur 57.000 der Stimmen; 88 Prozent der Brüssler wählten frankophone Politiker. Früher habe der Vlaams Belang immer gesagt, "wir lassen Brüssel nicht fallen". Aber inzwischen ist Deckmyn bereit, über eine Lösung nachzudenken, die Brüssel zu einer Sonderzone machen würde. Es wäre dann eine zweisprachige Stadt unter EU-Verwaltung.
Wenn Brüssel schon verloren ist, wollen die flämischen Nationalisten wenigstens den Kampf um die südlichen Randbezirke der Hauptstadt gewinnen. 30- bis 40-mal wurde Deckmyn dort schon von der Polizei festgenommen. Allerdings musste er nie länger als elf Stunden auf einer Wache verbringen. Sein Vergehen: Auf Sitzungen von Gemeinderäten hatte er lautstark gepöbelt, dass Flämisch und nicht Französisch gesprochen wird.
Die flämische Umgebung von Brüssel "französisiert", wie es die Flamen nennen, weil sich immer mehr frankophone Brüsseler die teuren Mieten der Hauptstadt nicht mehr leisten können. Willkommen sind die frankophonen Neubürger aber nicht. Und damit aus ihnen gute Flamen werden, gibt es in den meisten flämischen Randgemeinden weder französische Schulen noch Bibliotheken. In den Rathäusern verkünden Schilder, dass man zwar alle Kulturen respektiere, dass es aber nicht erlaubt sei, Französisch zu sprechen. Obwohl sie Belgier sind, haben die Frankophonen in Flandern nicht mehr Rechte als Spanier, Deutsche oder Türken. Welchen Status die Umgebung von Brüssel haben soll, das ist jetzt auch ein zentraler Streitpunkt in den Koalitionsverhandlungen zwischen Wallonen und Flamen.
Inzwischen haben die Wallonen auf die "flämische Radikalisierung" reagiert, wie es die Sozialistin Marie Arena nennt. Die Premierministerin der französischen Gemeinschaft hat jüngst eine frankophone Kommission einberufen, die "ohne Tabus" auch die Frage stellen soll: "Und was, wenn wir uns morgen trennen müssen?"
Ihr Landsmann Etienne Fafouille ist gelassener. Der 48-Jährige versteht, dass die Flamen nicht unbegrenzt zahlen wollen. "Hier in der Wallonie strengt sich doch niemand an", meint der Buchhändler aus Charleroi. "Aber die Flamen, die sind wie die Deutschen", sagt er mit einer zackigen Handbewegung.
In seinem Antiquariat verkauft Fafouille fast alle Bücher für einen Euro, weil sich viele Kunden nicht mehr leisten können. Charleroi ist ein Symbol für den Abstieg der Wallonie. Für die Flamen sieht es in der Stadt aus "wie in der DDR"; der Reiseführer rät ab, die Stadt zu besuchen. Sie war einst das Zentrum des pays noir, des schwarzen Landes. Aus jener reichen Zeit der Kohle und des Stahls sind nur noch die Abraumhalden übrig, die die Stadt umgeben.
Berühmt ist Charleroi inzwischen allein für seine Korruptionsskandale; zeitweise saß fast die Hälfte des sozialistischen Magistrats im Gefängnis. "Die Sozialisten haben die Wallonie ruiniert", sagt Fafouille. Das sagt auch jeder andere, den man fragt. Und trotzdem erhielten die Sozialisten hier bei der letzten Wahl wieder die meisten Stimmen.
Dass es wirklich zu einer Teilung Belgiens kommt, kann sich Fafouille nicht vorstellen. "Dann müssten die Flamen ja den größten Teil der Staatsschulden übernehmen", rechnet er vor. Aber eigentlich interessiert er sich sowieso nicht für die nationale Politik. Der passionierte Wassersportler findet es viel schlimmer, dass die wallonischen Grünen verbieten wollen, auf einigen Wildbächen Kajak zu fahren. "Das ist Öko-Diktatur!"
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