„Beine an der Schulter“

Katja Abel (22) hatte gute Chancen, bei Olympia in Athen dabei zu sein. Dann stürzte sie im Training und brach sich beide Unterarme. Nun turnt sie wieder – mit Metallschienen in den Armen

AUS BERLIN MARKUS VÖLKER

„Ich habe jetzt noch Material drin“, sagt Katja Abel und dreht ihre Unterarme hin und her. Vier Titanplatten stecken drin, seit 14 Monaten. Sie halten Elle und Speiche zusammen, auf den Armen sind vier Narben zu sehen, jede etwa zehn Zentimeter lang. Die Narben werden Katja Abel ihr Leben lang an den 6. Februar des vergangenen Jahres erinnern, als das Fatale passierte: der Sturz vom Stufenbarren und der Bruch beider Unterarme. Am gestrigen Mittwoch feierte Katja Abel (22) ein kleines Comeback: Sie turnte bei der deutschen Meisterschaft auf dem Schwebebalken. Auf diesem Gerät kann sie die Arme schonen. Nur beim Abgang muss sie sich abstützen. „Wer mich nicht kennt, dem fällt gar nicht auf, dass ich eine besondere Übung turne“, sagt sie. Beim Finale am heutigen Donnerstag rechnet sie sich sogar gute Chancen aus.

Katja Abel konnte in den vergangenen Monaten nur auf dem schmalen Balken ernsthaft üben. Versuchte sie am Reck ein paar Riesenfelgen, schmerzten die Arme höllisch; eine Ultraschalluntersuchung ergab, dass die Titanplatten bei dieser Belastung aneinander reiben. „Bei den Riesenfelgen hatte ich das Gefühl, es zerreißt mir die Arme.“ Die lästigen Metallschienen werden in der kommenden Woche herausoperiert. Dann muss Katja Abel, die siebenmalige Meisterin, wieder auf die Stabilität ihrer Knochen vertrauen. Die Ärzte haben gesagt, sie könne sie wieder voll belasten. In ein paar Wochen. Dann will sie zurück an alle Geräte, auch an den Barren.

„Wenn ich etwas will, dann schaffe ich das auch“, sagt sie, dreht sich um und zeigt auf eine Tafel hinter sich, eine vergilbte Wandtafel, auf der die Erfolge der Frauenturnerinnen des SC Dynamo Berlin verzeichnet sind. Der Name Abel ist auch aufgeführt, unter der Rubrik „Olympische Spiele“ sogar. Ihre Mutter, Irene Abel, gewann 1972 bei den Sommerspielen in München mit der Mannschaft Silber. Die Tochter hat jahrelang von so einem Erfolg geträumt. Doch vor Sydney machten ihr Rückenprobleme zu schaffen. Vor Athen kam es zum folgenschweren Unfall in der Frauenturnhalle in Berlin-Hohenschönhausen. „Ich konnte gar nicht denken“, erinnert sie sich an das Unglück, „ich wusste nur: Athen, das war’s.“

Immer wieder ist sie die Szene durchgegangen. Immer wieder hat sie sich dieselbe Frage gestellt: „Warum habe ich mich nicht über einen Liegestütz locker abgefangen, warum bin ich mit durchgestreckten Armen aufgekommen?“ Die Wucht des Aufpralls war zu groß, sie fiel ja aus mehreren Metern auf die Matte. Die Knochen mussten bersten. „Wir lernen ja eigentlich fallen“, sagt sie, „und die Trainer bläuen uns ein: Hände weg beim Fallen.“ Aber nach diesem missglückten Flugelement war jeder Rat zwecklos. Sie saß plötzlich da, auf dem Hosenboden, sprachlos, schockiert, die Arme im rechten Winkel wegstehend – und wartete ewig lange vierzig Minuten auf den Notarzt, der ihr unter unsäglichen Schmerzen die Arme wieder gerade bog.

Katja Abel unterzog sich einer OP, einer notdürftigen. Die Platten mussten in einer zweiten OP wieder entfernt werden, weil sie sich nicht als tauglich erwiesen. Dann schwollen die Arme an. „Das war nicht ich“, sagt sie, „ich hatte so fette Arme, es sah aus, als hätte ich ein Bein an der Schulter.“ Es folgte der Marathon der Rehabilitation, der Kampf mit sich selbst, „der Kampf mit dem Trauma“, wie Katja Abel sagt. Sie hat es allein bewältigt, ohne psychologische Hilfe. „Die meisten Dinge mache ich mit mir selber aus“, sagt sie. Eine Seelsorgerin hatte sie im Krankenhaus besucht. Aber der wollte sie sich nicht anvertrauen. „Warum auch, das war eine fremde Person.“

Ohne den Unfall hätte sie nach einem Start bei den Olympischen Spielen von Athen aufgehört. Die deutsche Mannschaft hatte sich zwar nicht qualifiziert, aber Katja Abel hätte einen Einzelstartplatz ergattern können. Doch es kam anders.

„Was für ein komisches Jahr, dieses 2004“, sagt sie rückblickend, „erst stirbt ein ukrainischer Nationalturner bei einem Autounfall, dann passiert mir das, und schließlich Ronny Ziesmer.“ Ziesmer ist nach einer missglückten Landung querschnittsgelähmt. Abel hat ihn mehrmals besucht. Sie haben sich gegenseitig Mut gemacht.

Abel, die Hauptgefreite der Bundeswehr-Sportfördergruppe, erzählt, dass sie nun mit einem anderen Gefühl die Turnhalle betritt. „Mein Gefahrenbewusstsein ist gewachsen.“ Anfangs habe sie auch ihre Angst überwinden müssen, dass schon beim kleinsten Sturz ihre Arme brechen. Aber sie hat dann nach ein paar Patzern am Schwebebalken gesehen, dass kein Unglück passiert, wenn sie abrutscht und vom Gerät fällt. „Das war sehr heilsam“, sagt sie. „Man malt sich ja plötzlich Sachen aus, an die man vorher gar nicht gedacht hat.“ Jetzt will sie sachte ihre Form aufbauen und sich langsam wieder mit dem Stufenbarren befassen. Von diesem Gerät ist sie gefallen. Aber sie ist wieder aufgestanden.