Behinderte Schüler in Deutschland: Aussortiert und abgesondert
Conny ist halbseitig gelähmt und geht auf eine Sonderschule. Laut UN-Konvention müssen Kinder wie Conny in normale Schulen integriert werden - doch die Bundesländer schert das nicht.
Letztes Jahr, in der ersten Klasse, ging Conny* noch zu Fuß zur Schule. Es dauerte ein bisschen länger als bei den anderen Kindern, das rechte Bein und die rechte Hand wollen nicht, wie sie es will. Auch im Unterricht ging es nicht immer ganz so schnell. Beim Ausschneiden von Buchstaben zum Beispiel. Und auch beim Rechnen, da hielt das Mädchen mit den blonden, schulterlangen Haaren nicht ganz mit. Aber in Deutsch und Englisch war Conny ganz gut. Es gefiel ihr an der Schule, dort hatte sie ihre Freunde.
Elterninitiativen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die Grünen kritisieren Pläne, für Sonderschüler einen eigenen Abschluss zu schaffen und die Jugendlichen so aus den Schulabbrecherstatistiken verschwinden zu lassen (taz berichtete). Darüber wollen die Kultusminister der Länder in Stralsund beraten, deren Konferenz an diesem Freitag endet.
Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Priska Hinz, bezeichnete das Vorhaben als "echten Skandal". Anstatt statistischer Tricks sollten die Kultusminister Vorschläge vorlegen, wie Deutschland zu einem inklusiven Schulsystem kommen könne, wie es die UN-Behindertenkonvention fordert. Laut einem von den Grünen in Auftrag gegebenen Gutachten des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie könnten bis 2020 alle Sonderschulen aufgelöst werden. Dies würde jährlich zwischen 1,8 und 4,3 Milliarden Euro kosten.
Die Freunde sind immer noch dort. Nur Conny nicht mehr. Heute wird die Achtjährige jeden Morgen von einem weißen Kleinbus abgeholt. Der bringt sie an eine Schule, die zehn Kilometer außerhalb ihrer baden-württembergischen Gemeinde liegt. Es ist eine Schule für Körperbehinderte. Eine Sonderschule.
Conny ist von Geburt an halbseitig gelähmt. Sie war ein Frühchen. Connys Mutter Sonja Klein* wollte nie, dass ihre Tochter auf eine Sonderschule kommt. Und im ersten Schuljahr wurde ihr auch immer wieder gesagt, mit zusätzlichen Förderstunden wäre alles kein Problem. Nur: Ein Unterstützungslehrer kam nie, sosehr die Mutter auch drängelte.
Plötzlich sagten alle, auf der Sonderschule sei das Kind richtig aufgehoben, berichtet die Mutter. Als auch noch das Klassenzimmer ein Stockwerk nach oben verlegt wird, verzweifelt sie. Treppensteigen ist für Conny besonders schwer. In der Hoffnung, dass es ihrem Kind auf der Sonderschule bessergeht, knickt die Mutter schließlich ein. Das Problem ist nur: Sonja Klein findet inzwischen, es geht Conny dort nicht besser. Nicht nur, dass die Freunde fehlen. Nicht nur, dass sie jeden Tag vom Ort weggekarrt wird. "Sie lernt so gut wie nichts mehr dazu."
Eigentlich dürfte es nicht allzu schwer sein, ein Mädchen wie Conny in eine normale Schule zu integrieren. Die Gemeinden geben Milliarden aus, um Schulen zu sanieren, Multimedia-Equipment anzuschaffen und Turnhallen zu bauen. Da soll kein Geld da sein für Förderstunden? Kein Geld für Kinder wie Conny?
Dabei hat sich Deutschland mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Zum Jahreswechsel ist sie auch hierzulande in Kraft getreten. Inklusiv, das heißt: Alle werden gemeinsam unterrichtet. Sozialverbände und Behindertenorganisationen sehen das Übereinkommen als Meilenstein und glauben, dass Eltern auf Grundlage der UN-Konvention klagen können, wenn die Behörden ihre Kinder in eine Sonderschule abschieben wollen. Die Regelschule soll auch für Kinder mit Behinderungen die Regel werden - und nicht wie bisher die Ausnahme.
In Deutschland werden heute nur 15 Prozent der Schüler mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf in die normalen Schulen integriert. 85 Prozent werden in Schulen gesteckt, in denen sie unter sich bleiben - so wie die achtjährige Conny. In den anderen Ländern der Europäischen Union ist das Verhältnis umgekehrt.
Mehr als 400.000 Kinder und Jugendliche werden in Deutschland ausgesondert, das ist knapp jeder 20. Schüler. In Italien und Norwegen kommt noch nicht einmal jeder 200. Schüler auf eine Sonderschule. Und es sind nicht nur die Schwerstbehinderten, die Downsyndrom-Kinder, die Querschnittsgelähmten und Autisten oder Gehörlosen, die auf deutschen Sonderschulen landen, sondern auch die Hyperaktiven, die Rechenschwachen, die Aggressiven. Oder einfach nur die Armen und die Ausländerkinder.
Ausländische Kinder landen mehr als doppelt so oft auf Lernbehindertenschulen wie deutsche Kinder - oft nur, weil sie schlecht Deutsch können. Auf diesen Schulen versammelt sich die Hälfte aller Sonderschüler. Offiziell heißen sie nicht mehr "Lernbehindertenschulen". Und auch das Wort "Sonderschulen" vermeiden die Behörden meist. Sie reden von "Förderschulen mit Förderschwerpunkt Lernen". Doch der Name ändert nichts: Im internationalen Vergleich bleibt es ein Sonderweg. Einer, der gnadenlos gescheitert ist. Doch kann die UN-Konvention ihn tatsächlich beenden?
Drei Jahre Zeit wollten sich die Kultusminister nehmen, um auf die neue Rechtslage zu reagieren. Doch der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau (CDU) sieht die Forderungen aus der Konvention schon jetzt erfüllt. Sein Ministerium teilt mit: "Baden-Württemberg erfüllt mit den Angeboten und Möglichkeiten seines Schulsystems, wie alle anderen deutschen Länder auch, die Forderung der UN nach einer gleichwertigen Bildungsteilhabe für Menschen mit Behinderungen." Sein bayerischer Amtskollege Ludwig Spaenle (CSU) ließ vor wenigen Tagen wissen, dass er sich gegen eine Aufgabe der Förderschulen zugunsten einer Integration in normale Schulen wehren werde. "Wenn es sein muss, lasse ich mich dafür auch verklagen", sagte Spaenle.
Karin Evers-Meyer ärgern solche Aussagen. Evers-Meyer ist Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Im Ausland, erzählt sie, werde ihr immer wieder vorgehalten, dass Deutschland Weltmeister im Aussortieren sei. "Ich würde dann gerne sagen, das stimmt nicht", sagt Evers-Meyer. "Aber die Tatsachen sind so deprimierend, wie sie sind." In diesen Wochen ist die SPD-Politikerin von Kiel bis München unterwegs, um zu diskutieren, wie die UN-Vorgaben umgesetzt werden können. Denn im Gegensatz zu Bayern und Baden-Württemberg findet sie nicht, dass Deutschland ihnen schon nachkommt. "Die Zahlen sind beschämend", sagt sie.
Evers-Meyer hat einen Preis für inklusive Schulen ins Leben gerufen, benannt nach Jakob Muth, einem Pionier der Behindertenpädagogik. Und dann ist da eben die UN-Konvention. Durch sie wird sich etwas bewegen, hofft Evers-Meyer. Und wenn es durch die Klagen passiert, die der bayerische Kultusminister schon auf sich zurollen sieht. Diese Klagen werden kommen, sagt Evers-Meyer. Die ersten Eltern bereiteten sich darauf vor.
Rolf Werning hat weniger Hoffnung auf eine grundlegende Wende. Er war selbst Sonderschullehrer, heute ist er Pädagogikprofessor in Hannover. "Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland" heißt die Bibel der Bildungsforschung, die gerade in neuer Ausgabe erschienen ist. Werning hat darin das Kapitel über Sonderschulen geschrieben. Es endet mit dem Wort: Stagnation. Dabei ist das Urteil von Werning und vielen anderen Wissenschaftlern eindeutig: Behinderte Kinder lernen an den Sonderschulen nicht mehr als an normalen Schulen, sondern weniger. Nicht einmal 20 Prozent schaffen einen Hauptschulabschluss. Zusätzlich bekommen sie noch ein soziales Stigma verpasst: dumm, dümmer, Sonderschüler. Nicht die Sonderpädagogik an sich sei gescheitert, sagt Werning.
Das Prinzip Sonderschule aber sei es eindeutig. Oft entscheidet das Prinzip Zufall, wer auf einer Sonderschule landet. Migrantenkinder haben in Baden-Württemberg ein mehr als dreimal so hohes Risiko, auf eine Lernbehindertenschule geschickt zu werden wie in Bremen oder Berlin. In Sachsen-Anhalt ist der Anteil der Schüler auf allen Sonderschulen mehr als zweieinhalbmal so hoch wie in Schleswig-Holstein - eines der wenigen Länder, die sich offen zum Ziel einer inklusiven Schule bekennen. In den nächsten zehn Jahren soll dort die Integrationsquote so hoch sein wie im Rest Europas, also bei 85 Prozent.
Doch öffentliches Lob erhalten andere Länder. Sachsen etwa, das bei der jüngsten Pisa-Vergleichsstudie gerade als großer Sieger gefeiert wurde. Von Weltspitze war die Rede, von einem Triumph auf ganzer Linie. Doch zu welchem Preis?
"Wenn Kinder in den Schulen Probleme machen, wird in vielen Fällen sofort das Thema Förderschule ins Gespräch gebracht", sagt Astrid Grüttner vom sächsischen Landeselternrat. Grüttner hat selbst leidvolle Erfahrungen gemacht. Ihre Tochter hat ADS, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und kann sich nur schlecht konzentrieren. Die Grundschule wollte das Kind schon in der ersten Klasse auf eine Sonderschule abschieben. Die Mutter wehrte sich - mit Erfolg. Heute besucht das Mädchen das Gymnasium, bei Klassenarbeiten darf sie sich mehr Zeit nehmen als die anderen Jugendlichen.
Immer wieder hört Grüttner von Fällen, in denen ADS-Kinder, aber auch Kinder mit Rechenschwäche auf Sonderschulen verfrachtet werden sollen. Grüttners Erfahrung: Während sich die Bildungsbürger unter den Eltern oft erfolgreich wehren, landen die Kinder in einkommensschwachen Familien schneller auf der Sonderschule. Und noch etwas hat sie beobachtet: Wenn das Kind einmal abgeschoben ist, ist der Weg zurück extrem schwierig. "Da laufen die Eltern gegen Wände."
Dabei geht es auch anders. Oft sind es einzelne Schulleiter, Lehrerkollegien und Eltern, die sich auf den Weg zu einer inklusiven Schule machen. So wie das Werner-von-Siemens-Gymnasium in Bad Harzburg. In der Klasse 7a lernen die Schüler zusammen mit drei Jugendlichen mit Downsyndrom und einem schwer mehrfach behinderten Mädchen. 20 Stunden in der Woche kommen Förderlehrerinnen in die Klasse, die Amelie, Astrid, Marvin und André auch mal in einem Extraraum unterrichten. Aber Fächer wie Sport, Musik und Biologie haben alle gemeinsam, Deutsch zum großen Teil, Mathe und Englisch immerhin in einzelnen Stunden.
Die Klassenlehrerin Ina Samel orientiert sich im Unterricht an der Regel: Die Themen sind dieselben für alle, die zu erreichenden Ziele sind aber unterschiedlich. Das sei nicht immer leicht, sagt Samel. Klassische Kartenarbeit im Erdkundeunterricht etwa sei den vieren zu abstrakt. Und in Chemie müssten sich die Lehrkräfte immer überlegen, wie sie unsichtbare Vorgänge visualisieren können - indem sie Gase einfärben. Das alles verlangt Zeit, Vorbereitung, Engagement. Es ist nicht der leichteste Weg - aber genau den wollten die Bad Harzburger nicht mehr weitergehen.
*Name geändert
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