Begegnungen: „Rein in den Kartoffelsack und zugeschnürt“
■ Der Obdachlose Wolfgang R. hat sich mit einem „Gegenschock“ selbst therapiert
Seit vier Jahren treibt sich der 44jährige obdachlose Wolfgang R. mit einer Plastiktüte und einem Radio am Alexanderplatz rum. Wie so viele ohne Dach über dem Kopf sieht er älter aus. Die dunklen Haare sind strähnig, der Bart längst aus der Fassung geraten, die Kleidung speckig. Ein strenger Geruch geht von ihm aus. Die Worte, die aus seinem Mund kommen, sind schwer verständlich. Schuld daran ist nicht der Alkohol, sondern ein Sprachfehler.
„Ich bin normalerweise Landarbeiter, einen Beruf habe ich nicht gelernt. Ich war da nicht so stark. Seitdem ich vor vier Jahren draußen in Petershagen etwas Schwierigkeiten mit den Leuten hatte, arbeite ich nicht mehr. Ich hatte gemerkt, daß die ihre Wut an mir ausgelassen haben. Ich sollte mit Olaf die Schweine füttern. Hab ich aber nicht gemacht, weil der nämlich immer angegeben hat. Ich wurde auf deutsch gesagt in den Arsch getreten.
Seit zwanzig Jahren bekomme ich 674 Mark Invalidenrente. Ich hatte mit vierzehn Jahren einen Unfall mit einer schweren Kopfverletzung. Ich bin von einem Karussell runtergefallen und mit dem Kopf auf die Erde gedonnert. Ich bin damals laufend zusammengebrochen und habe verschwollen gesprochen, daß mich kaum jemand verstanden hat. Dann habe ich mich mit Alkohol wieder aufgebaut. Eines Tages war ich so betrunken, daß ich ins Bett gekotzt habe. Ich war steif wie ein Brett und hab morgens geholfen, einen Trecker anzuziehen. Statt den Vorwärtsgang habe ich aber den Rückwärtsgang reingehauen und bin voll in einen anderen Trecker reingefahren. Durch diese Schockwirkung habe ich das normale Sprechen wieder erlangt. Ehrlich. Auch mein Gedächtnis ist zurückgekommen wie früher als Kind. Das schafft nicht jeder. Kann ich aber nur jedem empfehlen. Das Trinken habe ich mir dann mit dem Rauchen abgewöhnt. Wenn ich Alkohol trinken wollte, habe ich mir eine Zigarette in die Schnauze gesteckt und war abgelenkt.
Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich zur Schule gegangen bin. Seit drei Jahren gehe ich zu einem Schreib- und Lesekurs. Ich bin da immer ein bißchen vorlaut und quatsche viel. Das mit der Schule ist für einen Erwachsenen sehr anstrengend. Ich lese auch ab und zu Zeitung. Ich lass' da nicht nach. Als Kind konnte ich schreiben, aber das ist durch die Kopfverletzung abgesackt. Meinen Namen kann ich noch schreiben.
Ich würde gerne wieder Landarbeit machen, wenn ich was finden würde mit ehrlichen Leuten und ohne Streit. Doch es ist schwer, was zu kriegen. Ich bin schwere Arbeit gewöhnt. Die auf den Behörden verdienen mehr als die Schwerarbeiter. Das finde ich nicht richtig. Ich bin ein Einzelgänger. Ich bin etwas menschenscheu, weil die andern manchmal die große Klappe haben, wo nichts dahinter ist. Besonders Frauen gegenüber bin ich sehr schüchtern, egal wie sie aussehen. Ich bin froh, wenn ich alleine bin.
Ich habe zwar eine Wohnung in Friedrichshain, aber da gehe ich nicht rein, weil da Gangster drin sind. Einmal sind vier Männer mit Knüppeln und Masken gekommen, haben die Tür eingetreten und wollten den Mietvertrag sehen und alles solche Dinger. Früher zu DDR-Zeiten habe ich neunundzwanzig Mark Miete gezahlt. Jetzt habe ich über 12.000 Mark Mietschulden. Ich schlafe irgendwo draußen, wo Platz ist. Wenn ich eine vor den Kopf kriege, hab ich meine Ruhe. Rein in den Kartoffelsack, zugeschnürt und zugeschüttet. Da braucht man keine Beerdigung für machen. Ich nehm' das Leben, wie's ist.“ Barbara Bollwahn
wird fortgesetzt
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