Begegnung: Tach auch, here I am
"Einfach weiter seinen eigenen Stiefel durchziehen": Mit ihrem neuen Album "Humanity - Hour 1" arbeiten die Scorpions daran, endlich wieder mehr Gehör zu finden.
Wer sich unter professionellen Musikern von Los Angeles bis London so umhört, der könnte Kraftwerk für die weltweit erfolgreichste deutsche Band aller Zeiten halten. Oder, was nicht weniger schmeichelhaft wäre, Can. Nun sind Künstler aber Künstler und keine Konsumenten. Und wenn Erfolg im Gegensatz zum Ruhm in nackten Zahlen gemessen werden kann, dann gebührt die Krone der meistverkauften musikalischen Exportware aus heimischem Anbau weder den vielzitierten Elektronik-Pionieren aus Düsseldorf noch den vielgerühmten Krautrockern aus Köln. Sondern den Scorpions. Aus Hannover, Heinz-Rudolf-Kunze-County.
Als diese Gruppe gegründet wurde, da hockte in Bonn noch Ludwig Erhard im Kanzleramt. Ihr Debüt veröffentlichten sie unter Willy Brandt, unter Helmut Schmidt eroberten sie erst Deutschland, dann Europa, kurz darauf Amerika - und damit die ganze Welt. Die Scorpions lieferten anders als die Diskotheken nicht den Rhythmus, sondern eskapistisches Hintergrundrauschen zur Ära Kohl und das Lied zur Wende. Und beim letzten Kanzler war es dann so weit, man duzte sich und ging zusammen Tennis spielen. Die Scorpions ragen in unsere Zeit hinein wie ein monolithisches, vielleicht aber auch irgendwie lächerliches Relikt fernster Tage. Was das Pathos so heikel macht, ist ja, dass es so gerne ins Lächerliche kippt.
75 Millionen Tonträger hat diese Gruppe im Laufe ihrer Karriere bisher verkauft, und mit dem neuen, ihrem einundzwanzigsten Album unter dem leicht verschwurbelten Titel "Humanity - Hour 1" werden es wohl oder übel noch ein paar mehr werden. Ganz genau. Neue Platte. Die Scorpions. Wohl oder Übel? Die Gegensätze liegen verdächtig nahe beieinander an diesem schwülen Dienstagnachmittag in Berlin. Verabredet ist ein Mittagessen mit den Scorpions, ein Interview mit vollem Mund und die einmalige Gelegenheit, dieses "Urgestein des Rock" (Thomas Gottschalk) zu einem PR-Termin beim Radio zu begleiten.
Klaus Meine sieht aus wie Klaus Meine, dieser Rocksänger von früher, als es noch "Hardrock" hieß, nicht Rock. Als es noch echte "Powerballaden" gab, wie "Still Loving You", nicht nur so schwachbrüstige Ballädchen wie heute. Klaus Meine hat kürzlich Geburtstag gefeiert, am 25. Mai wurde er 59 Jahre alt. Nun ist 59 nicht 60, aber trotzdem das letzte Lebensjahr mit einer 5 am Anfang und daher kein Zuckerschlecken für einen Rocksänger. Und für einen Hardrocksänger erst recht nicht.
Sein Händedruck ist trocken und fest und verbindlich: "Meine", sagt er freundlich, und seine sehr blauen Augen fügen diskret hinzu: Ich bin Klaus Meine, Prophet im eigenen Lande. Ich habe "Wind Of Change" geschrieben und ihr habt alle mitgepfiffen, auch wenns euch heute zum Hals raushängt. Also komm mir nicht blöd, sei so gut.
Meine trägt eine teure Armbanduhr, Lederweste, das Hemd weit aufgeknöpft und um den Hals einen sehr locker gebundenen Schlips mit entzückendem Totenkopfmotiv. Tief in die Stirn gezogen hat er seine notorische Kappe, die schon seit den späten Siebzigern den erkahlenden Kopf konsequenter allen Blicken entzieht als jedes Toupet. Den Tipp muss er von Udo Lindenberg bekommen haben. Gerne träfe man Meine mal ohne dieses Outfit, das Verkleidung und Arbeitskleidung zugleich ist. Ob das Gerhard Schröder mal vergönnt war, dem prominentesten Kumpel des Hardrocksängers aus Hannover? Ob der Politiker überhaupt Wert darauf legte?
Es sind genau solche Fragen, die Meine erwartet hat: "Ich kannte den Gerhard schon, bevor er Bundeskanzler war", sagt er: "Wir waren schon befreundet, da war der noch nicht einmal Ministerpräsident. So eine Freundschaft gibt man doch nicht einfach auf, nur weil einer jetzt ein politisches Amt bekleidet", sagt Meine und schränkt dann doch ein, dass es schon ein Weilchen her ist, seit man zuletzt gegeneinander Tennis spielte.
Ganz anders Rudolf Schenker, der uns ein breites Lächeln schenkt und kurz seine wertvolle Rechte hinhält, bevor er sich in die Lektüre der Speisekarte vertieft. Schenker ist das, was man einen "Gitarrengott" nannte damals, als der Rock noch "Hardrock" und so weiter. Es gibt Leute, die würden diese Hand küssen für die Riffs, die sie schon gespielt hat. Wenn auch womöglich nicht mehr unbedingt hierzulande, dann doch in Indonesien, Thailand oder Russland, notfalls sogar Weißrussland: "Wir sind international ganz gut aufgestellt, wir gehen dahin, wo die Leute uns hören wollen", wird Schenker später sagen. Seine ganze Körpersprache sagt: Tach auch, here I am, rock me like a hurricane. Es ist zum Verzweifeln.
Obschon er kein Jahr jünger ist als sein Kollege und längst glücklicher Großvater, wirkt der baumlange Gitarrist mit seinem durchtrainierten Körper und dem wie unter Strom gesetzten Blondschopf vorneweg 30 Jahre jünger. Das Designerhemd aus Los Angeles mit dem goldenen Satz "Born on the street" auf samtschwarzem Grund ist hauteng, die getönte Pilotenbrille mit dem grotesken Ornament aus Edelsteinen wird erst einmal nicht abgenommen.
Schenker ist der Mann, der nicht nur bei den "Scorps" auf der Bühne, sondern auch bei der "Scorpions Musikproduktions- und Verlagsgesellschaft mbH" alleinvertretungsberechtigt die Geschäfte leitet; der vor Gericht ganz genau wissen wollte, welche Umsätze eine gewisse "Sport und Freizeit GmbH" durch den Verkauf von Fanartikeln des nach seiner Band benannten Eishockeyteams "Scorpions" gemacht hat; der gegen den Hamburger Konzertveranstalter Scorpio GmbH einen Vergleich erwirkt hat, weil er seine Marke "Scorpions" in akuter Verwechslungsgefahr wähnte; der sich jetzt einen Eisbecher mit Erdbeeren genehmigt, "weils ja auch verdammt früh losging heute", wie er sagt, mit einem Auftritt im Frühstücksfernsehen von Sat.1 und einer Aufzeichnung für die ZDF-Sendung "Leute heute".
Gleich gehts weiter zum nächsten Termin bei Thomas Koschwitz. Ein alter Bekannter, der "Koschi", war immer mit dabei. "In der Ukraine zum Beispiel", erinnert sich Meine. In der Ukraine stehts blendend um die Scorpions, dort wird die Gruppe regelmäßig von einer Horde Motorradrocker vom Flughafen zum Hotel begleitet, wovon vor allem Schenker sich beeindruckt zeigt: "Die kommen in Kiew immer unaufgefordert vorbei und passen auf uns auf!" Meine fügt hinzu: "Schön ist auch, man sieht das ja, wie viele junge Leute kommen."
Unaufgefordert und doch wie bestellt tritt da eine junge Studentin an den Tisch und bittet unter allerlei Knicksen um ein Autogramm, was so routiniert wie emsig gewährt wird. Es stellt sich heraus, dass das CD-Cover zu dunkel ist für eine Unterschrift mit schwarzem Edding und ein Silberstift nicht zur Hand. Schenker packt die Autogrammkarten aus, dann klappts. "Vielen Dank", freut sich die Studentin, "ich bin nämlich als Sternzeichen auch Skorpion." Ob sie sich die neue Platte anhören wird?
Es sieht schlecht aus, wie der zuständige Radiopromoter der Plattenfirma jetzt referiert. Kaum jemand will die Single spielen, außer in Magdeburg. Sie sei einfach zu hart, was Meine sichtlich erfreut. Wie das Album läuft, könne man noch nicht sagen, erste Zahlen gebe es erst in ein paar Tagen. Derzeit tummeln sich ganz oben in den Charts Roger Cicero, Herbert Grönemeyer, Nelly Furtado und, mit Linkin Park, die Scorpions in ganz jung. Dorthin wollen die Scorpions gar nicht unbedingt. Die Scorpions wollen sich vielmehr etwas beweisen, sich selbst und Thomas Gottschalk und Thomas Koschwitz und vielleicht sogar ihren Enkeln. "Vor zehn Jahren wars ganz schlimm", meint Meine mit Blick auf den Musikgeschmack des Nachwuchses, "da war ganz Deutschland ein Hiphop-Land." Als wir ihm auf der Fahrt zum Radiosender unvorsichtigerweise gestehen, die ersten zehn Takte auf "Humanity - Hour 1" erinnerten tatsächlich ein wenig an Metallica, da freut Meine sich noch mehr: "So, so, hat es den Herrn Redakteur also überrascht?"
Nicht minder als der sehr, sehr seltsame Auftritt von Billy Corgan von den Smashing Pumpkins als Gastsänger - ausgerechnet Corgan, einer der säulenheiligen Schmerzensmänner des Grunge, der mit seiner frischen Wut und unverstellten Aggression den Scorpions nach den fetten Achtzigern die dürren Neunziger bescherte. Plötzlich klangen die Scorpions nicht mehr wild und gefährlich, so sehr sie auch lärmen mochten - sondern altersmilde und staatstragend. Trotzdem haben sie auch diese Modewelle überlebt und die Chuzpe, deren Überlebende für ein Ständchen an Bord ihres unsinkbaren Kutters zu bitten. Aber warum? Warum wollen die Scorpions heute so klingen wie Metallica vor 25 Jahren? Was treibt sie an, Häme und Spott zu trotzen? Warum, bitte schön, sind sie nicht längst verschwunden? Einfach deshalb, weil es sie schon so lange gibt. Die Scorpions hatten nie ein Comeback, weil sie nie weg waren. Was sie unter anderem ihrer Heimatstadt Hannover zuschreiben: "Das ist ein Ruhepol. Und es motiviert. Wenn du aus Hannover kommst", erläutert Schenker, "musst du dich doppelt und dreifach anstrengen."
Dennoch scheint es wie ein kleines Wunder, dass die Scorpions niemals einen Psychotherapeuten nötig hatten. Schenker findet die Frage danach gar nicht abwegig: "Prinzipiell ist das schon toll, wenn jemand von außen kommt und auf so eingefahrene Strukturen guckt. Aber wir sind doch nicht Metallica. Außerdem wechseln unsere Musiker oft genug, da rostet so schnell nichts ein." Meine schaut derweil aus dem Fenster und murmelt: "Naja, manchmal wäre es vielleicht schon hilfreich gewesen", während Schenker schon ungebremst von Musikern berichtet, die nicht verschwinden können, auch wenn sies wollten.
Wie der von anderen Bluesgitarristen noch heute sehr vermisste Stevie Ray Vaughn, der 1990 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam: "Carlos Santana hat mit erzählt, wie Vaughn ihm ein paar Tage nach seinem Tod im Traum erschienen ist, um ihm zu sagen, er dürfe seinen Verstärker haben, der bei seinem Bruder im Schuppen steht", erzählt Schenker, was er "ja eigentlich niemandem erzählen könne", aber trotzdem erzählt. Santana habe sich nicht weiter um den merkwürdigen Traum gekümmert. Daraufhin sei aber Vaughns Geist Vaughns Bruder im Traum erschienen, um ihn zu drängen, den Verstärker an Santana zu übergeben: "Das war einfach eine unerledigte Sache, deswegen konnte sein Geist sich nicht auf den Weg machen. Und deshalb spielt Carlos jetzt auf dem alten Amplifier von Stevie Ray Vaughn", sagt Schenker und reiht daran nahtlos die Geschichte, wie ihm und Meine zuliebe mal über Manhattan ein Hubschrauberpilot einen Looping hingelegt habe und alles gut gegangen ist.
Wie überhaupt immer als gut wird, solange "man einfach weiter seinen eigenen Stiefel durchzieht", wie Schenker betont, denn das ist sein Credo: "Das habe ich auch Billy Joe Armstrong von Green Day gesagt, als der sich vor vier oder fünf Jahren in einer Bar bei mir ausgeheult hat. Ich sagte: Junge, mach einfach ruhig dein Ding weiter, und dann wird das schon." Green Day machten ruhig ihr Ding weiter und sind heute wohl wieder eine der erfolgreichsten Rockbands weltweit.
Die Scorpions machen auch weiter auf ihrem neuen Album. Es überrascht das erste Lied mit seiner Wucht und das letzte mit seiner Raffinesse, dazwischen gähnt der Abgrund massenkompatibler Durchschnittlichkeit. Auf dem Innencover sehen wir die Musiker in grimmiger Pose am Rand eines glühenden Kraters, der nicht weniger darstellen soll als den Abyss, in den die Menschheit blickt, so sie sich nicht endlich auf ihre menschlichen Werte besinnt. Darum geht es auf "Humanity - Hour 1", um plattes Zeigefingergefuchtel und viele Gitarren - ernsthaft bemüht, die Last des Pathos zu stützen. Vielleicht singt Meine dann doch einen Tick zu oft von "brennenden Engeln", die vom Himmel fallen, von Flammen und Asche und der Notwendigkeit zur Umkehr. Das mag mal provokant und böse rübergekommen sein, heute aber wirkt es über weite Strecken ermüdend belehrend. Aber vielleicht ist auch genau das der Trick: stehen bleiben und die Welt sich drehen lassen. Wenn man nur lange genug stehen bleibt, kommt die Welt ganz wie von selbst eines Tages wieder an. Das ist die innerste, wertkonservative Mechanik des Rock.
Womöglich ist deshalb auch von einer skeptischen oder wenigstens ironischen Distanz zu ihrer Rolle bei beiden Herren nichts zu spüren. Bei Thomas Koschwitz übrigens auch nicht. Nach ausgiebigem Schulterklopfen und Umarmen will der Moderator auf einen Song hinweisen, der ihm besonders gut gefällt, dessen Titel ihm aber jetzt gerade partout nicht einfallen will: "Diese Powerballade jedenfalls, astrein. Die würde ich sofort in die Heavy Rotation nehmen, wenn ich da was zu sagen hätte", sagt er und tut dann kokett, als würde er schmollen: "Ich habe gehört, Mensch, ihr wart ohne mich in Kiew!" Meine lässt sich kopfschüttelnd aufs Sofa fallen: "Ja, es war der Wahnsinn. Wir sollten da in Kiew spielen, und plötzlich machen die orangene Revolution!" Koschwitz, besorgt, fragt: "Waren wenigstens die Motorradrocker wieder da?" - "Klar, die haben uns dann sicher wieder zum Flughafen eskortiert." - "Na, dann ist ja gut", seufzt Koschi erleichtert und hat ausnahmsweise Recht. Manchmal ist es wirklich ganz gut, wenn da noch ein paar alte Rocker sind.