piwik no script img

Befreiung der NebenwidersprücheThe Real Thing

Knapp überm Boulevard

von Isolde Charim

Eine Zeitung ist auch ein Diskurszusammenhang Im taz-Diskurs wird immer häufiger ein neuer Ton angestimmt. So hat etwa der wunderbare Peter Unfried schon vor einiger Zeit geschrieben: Haben wir vor lauter Identitätspolitik die wirklich entscheidenden Dinge verpasst? Auch die sehr geschätzte Ulrike Herrmann stieß in dieses Horn, als Sie meinte, die Fremdenfeindlichkeit der österreichischen FPÖ sei nur die „Oberfläche“, im „Kern“ gehe es um die Abstiegsängste ihrer Wähler. (Lustigerweise war dies ein Artikel im Wiener Falter, auf den ich nun von Wien aus in der taz antworte.)

Das Basis-Überbau-Schema

„Wirtschaftsvergessenes Gedöns“ versus entscheidende Dinge oder Oberfläche versus Kern – es sind dies zwei Beispiele für das zaghafte Wiederauftauchen eines alten linken Themas: des Basis-Überbau-Schemas. Das war das marxistische Dogma, dass die Ökonomie die alleingültige gesellschaftliche Realität sei, während alle anderen Bereiche nur abgeleitete Reflexe dieses eigentlichen, des Real Thing, seien.

Die Dekonstruktion dieses Glaubenssatzes hat Jahrzehnte in Anspruch genommen. Eine lange Begriffsarbeit war vonnöten, um die „Überbauten“ als gesellschaftliche Orte eigenen Rechts gegen den Ökonomismus der Basisfetischisten durchzusetzen. Erst dadurch wurden die Auseinandersetzungen um Frauenrechte, Umweltfragen oder Fremdenfeindlichkeit aus ihrer Rolle als „Nebenwidersprüche“ befreit und zu gleichwertigen politischen Problemen.

Es war dies auch die Erfahrung, dass alles zum politischen Bereich aufgeladen werden kann. Nicht weil alles politisch ist – wie es das Credo der 68er war –, sondern, weil alles politisch werden kann. Weil also alles zu jenem Bereich, jenem Problem werden kann, an dem das Gesellschaftliche jeweils verhandelt wird. Wo Konflikte zentral ausgetragen werden.

Wenn heute die Identitätspolitik als „gefühlig und wirtschaftsvergessen“ erscheint, als Gedöns, wenn heute die Fremdenfeindlichkeit einer nach rechts rückenden Gesellschaft, eines nach rechts rückenden Kontinents ein Oberflächenphänomen gegenüber dem ökonomischen Kern des Geschehens sein soll, dann sind solche Reden in gewissem Sinn symptomatisch: Sie zeigen etwas an. Sie sind Indiz für eine Veränderung – aber vielleicht nicht bereits deren Benennung.

Zum Gesellschaft­lichen gibt es keinen direkten, privilegierten Zugang – nur einen gelebten, imaginären, ideologischen

Blick auf die Verhältnisse

Vielleicht lässt sich diese Veränderung besser begreifen, wenn man sagt: Was wir derzeit in Europa erleben, ist die Aufladung, die politische Aufladung eines neuen Bereichs – der Ökonomie. Was heißt das nun? Heißt es, die Ökonomie, das „Wesen“ der Gesellschaft rückt ins Zen­trum? Heißt es, dieses war vorher verstellt? Wir waren verblendet und nun wird uns der Schleier von den Augen gerissen, der den klaren Blick auf die Verhältnisse verborgen hat?

Es war Louis Althusser, der den schönen Satz geschrieben hat: „Man sieht in der Geschichte nie, dass die Instanzen sich zurückziehen, um […] Ihre Majestät die Ökonomie voranschreiten zu lassen. Die einsame Stunde der ‚letzten Instanz‘ schlägt nie, weder im ersten noch im letzten Augenblick.“ Auch wenn also die Ökonomie heute dominant ist, auch wenn heute die entscheidenden Kämpfe und Konflikte auf diesem Feld stattfinden, so ist die Ökonomie doch nicht The Real Thing, die reale Basis, die nun ins Blickfeld rückt.

Haarspalterei? Sophismus? Warum ist das relevant? Weil es zeigt, dass wir die Ökonomie –auch als dominante Praxis – nur so leben können wie alle anderen Bereiche. Nicht als Wahrheit, nicht als Überwindung aller ideologischen Zugänge zu unseren Existenzbedingungen. Es gibt zum Gesellschaftlichen keinen direkten, privilegierten Zugang, nur einen gelebten, imaginären, ideologischen. Auch zur dominanten Ökonomie. Etwa die Identitätspolitik: Nicht einfach Gedöns, sondern eine (vielleicht überholte) Form, einen Bezug zur Gesellschaft zu leben. Oder die Ausländerfeindlichkeit: sie ist keine Oberfläche, sondern eine rechte Form, die ­ökonomische Dominante zu leben. Und ­diese Form lässt sich nicht einfach durchstreichen, um zum „Kern“, zum „eigentlichen“ Problem zu gelangen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen