■ Befreiung? Niederlage? Thomas Mann im taz-Interview: „Es war eine große Stunde“
taz: Herr Mann, was bewegte Sie, als Sie von der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands erfuhren?
Thomas Mann: Wie bitter war es, als der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes galt. Wie zeigte sich darin noch einmal schrecklich der Abgrund, der sich zwischen Deutschland, dem Land unserer Väter und Meister, und der gesitteten Welt aufgetan hatte. Die Sieges-, die Friedensglocken dröhnten, die Gläser klangen, Umarmungen und Glückwünsche ringsum. Der Deutsche aber, dem von den aller Unberufensten einst sein Deutschtum abgesprochen wurde, der sein grauenvoll gewordenes Land meiden und sich unter freundlicheren Zonen ein neues Leben bauen mußte, er senkte das Haupt in der weltweiten Freude.
Warum das?
Es war der Gedanke daran, was diese Freude für Deutschland bedeutet, durch welche dunklen Tage, welche Jahre der Unmacht zur Selbstbestimmung und der abbüßenden Erniedrigung es nach allem, was es schon gelitten hatte, würde gehen müssen.
So dramatisch wurde es mit der Erniedrigung ja nicht. Es kamen der Marshallplan, die Wiederbewaffnung, das Wirtschaftswunder. Herr Mann, was sagen Sie jenen 300 rechten Deutschen um den revisionistischen Historiker und Springer-Journalisten Rainer Zitelmann, die heute noch von Niederlage sprechen?
Die Stunde war groß, nicht nur für die Siegerwelt, auch für Deutschland. Die Stunde, wo der Drache zur Strecke gebracht war, das wüste und krankhafte Ungeheuer, Nationalsozialismus genannt, verröchelte und Deutschland von dem Fluch wenigstens befreit war, das Land Hitlers zu heißen. Wenn es sich selbst hätte befreien können, früher, als es noch Zeit dazu war, oder selbst spät noch im letzten Augenblick; wenn es selbst mit Glockenklang und Beethovenscher Musik seine Befreiung, seine Rückkehr zur Menschheit hätte feiern können, anstatt daß das Ende des Hitlertums zugleich der völlige Zusammenbruch Deutschlands war – freilich das wäre besser, das wäre das Allerwünschenswerteste gewesen. Es konnte wohl nicht sein. Die Befreiung mußte von außen kommen.
Weil die Mehrheit nicht befreit werden wollte ...
Vor allem, meine ich, solltet Ihr Deutschen die Befreiung als Leistung anerkennen, sie nicht nur als das Ergebnis mechanischer Übermacht an Menschen und Material erklären und nicht sagen, zehn gegen einen, das gilt nicht. Deutschland zu besiegen, das allein mit aller Gründlichkeit den Krieg vorbereitet hatte, war auch im Zweifrontenkrieg eine Riesenaufgabe. Die Wehrmacht stand vor Moskau und an der Grenze Ägyptens, der europäische Kontinent war in deutscher Gewalt. Es gab scheinbar gar keine Möglichkeit, kein Terrain, keinen Ansatzpunkt zur Bezwingung dieser unangreifbar verschanzten Macht. Der russische Marsch von Stalingrad nach Berlin, die kriegsgeschichtlich völlig neue und nicht für möglich gehaltene Landung der Angelsachsen in Frankreich am 6. Juni 1944 und ihr Zug zur Elbe waren militärisch- technische Bravourleistungen, denen deutsche Kriegskunst kaum etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen hat. Deutschland ist wahrlich, wenn auch unter ungeheuren Opfern, nach allen Regeln der Kunst geschlagen worden und die militärische Unübertrefflichkeit Deutschlands als Legende erwiesen. Für das deutsche Denken, das deutsche Verhältnis zur Welt ist das wichtig. Es wird unserer Bescheidenheit zuträglich sein, den Wahn deutschen Übermenschentums zerstören.
Die Kapitulation quasi als Endstation auf deutschen Sonderwegen?
Möge die Niederholung der Parteifahne, die aller Welt ein Ekel und Schrecken war, auch die innere Absage bedeutet haben an den Größenwahn, die Überheblichkeit über andere Völker, den provinziellen und weltfremden Dünkel, dessen krassester, unleidlichster Ausdruck der Nationalsozialismus war. Möge das Streichen der Hakenkreuzflagge die wirkliche, radikale und unverbrüchliche Trennung alles deutschen Denkens und Fühlens von der nazistischen Hintertreppen-Philosophie bedeutet haben, ihre Abschwörung auf immer.
Klingt da jetzt nicht allzuviel Hoffen und Wünschen durch?
Man muß hoffen, daß das Mitglied des deutschen Kapitulationskomitees, Graf Schwerin-Krosigk, nicht nur dem Sieger zum Munde reden wollte, als er erklärte, Recht und Gerechtigkeit müßten fortan das oberste Gesetz deutschen nationalen Lebens sein und Achtung vor Verträgen die Grundlage internationaler Beziehungen. Das war eine indirekte und allzu schonende Verleugnung der moralischen Barbarei, in der Deutschland länger als zwölf Jahre gelebt hat. Man hätte sich direktere Worte gewünscht.
Ein schlechtes Omen, wie später die sogenannte Vergangenheitsbewältigung zeigte. Muß also heutzutage umso mehr von Befreiung gesprochen werden?
Ich sage, es war trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit. Sie war hart und traurig, weil Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen konnte. Furchtbarer, schwer zu tilgender Schade ist dem deutschen Namen zugefügt worden und die Macht war verspielt. Aber Macht ist nicht alles, sie ist nicht einmal die Hauptsache.
Heute, nach der machtvollen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten plädieren grün behelmte Ex-68er für eine wichtige Rolle der Deutschen im Rahmen einer hübsch klingenden „Weltinnenpolitik“ ...
Nie war deutsche Würde eine bloße Sache der Macht. Deutsch war es einmal und mag es wieder werden, der Macht Achtung, Bewunderung abzugewinnen, durch den menschlichen Beitrag, den freien Geist.
Herr Mann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Konzept: Severin Weiland und
Hans-Hermann Kotte
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